Diskussion über vier Bücher

SWR Bestenliste Februar mit neuen Büchern von Arno Geiger u.a.

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Carsten Otte

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Aus der Bestenliste-Jury diskutieren die Literaturkritier*innen Daniela Strigl, Martin Ebel und Jörg Magenau mit Carsten Otte über Bücher von Simon Strauß, Mohamed Mbougar Sarr, Kerstin Preiwuß und Arno Geiger.

Vier Bücher und nur einmal gab es einhelliges Lob: Das Gespräch über vier ausgewählte Titel der SWR Februar-Bestenliste in der ausverkauften Bühler Mediathek begann mit der Novelle „Zu zweit“ von Simon Strauß, der auch als Theaterkritiker bei der FAZ arbeitet. Die Jurorin Daniela Strigl meinte, der der Autor hätte sich sprachlich mehr zurückhalten müssen: „Es sind zu viele überflüssige Sätze.“ Auch Martin Ebel bemängelte die Vielzahl der Vergleiche und eine Reihe von unglaubwürdigen Szenen. Jörg Magenau hingegen hielt das Unrealistische der Geschichte gar nicht für ein Manko, sondern für die eigentliche Qualität: „Im Grunde ist der Text ein Märchen, und ich mag die melancholische Stimmung, in der Strauß die vielen Dingen in den Mittelpunkt stellt, die von der Flut mitgerissen werden und die der Ich-Erzähler in der Katastrophe mit anderen Augen sieht.“

Regelrecht begeistert sprach Magenau über „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr, einem labyrinthischen Roman über einen angehenden Schriftsteller, der sich auf die Suche nach einem legendären Großwerk der afrikanischen Literatur macht. „Ich bin aber froh,“ gab er zu, „dass ich dieses Buch nicht vorstellen musste, so viele Erzählfäden und Ebenen enthält es.“ Strigl wusste die Qualitäten der vielschichtigen Prosa durchaus anzuerkennen, meinte aber, Sarr wolle zuweilen etwas überdeutlich beweisen, dass er jener große Schriftsteller sei, auf den das postkoloniale Publikum gewartet habe. Martin Ebel mag in dem literarischen Imponiergehabe kein Problem erkennen, weil es in dem Roman gerade darum gehe, wie nämlich ein afrikanischer Autor sich den europäischen Ansprüchen und vergangenen Verfehlungen sprachlich, aber eben auch zeitkritisch nähere.

Der Essay „Heute ist mitten in der Nacht“ der ostdeutschen Schriftstellerin Kerstin Preiwuß stimmt die Jury nachdenklich. Strigl lobte ihr radikales Schreiben über private Unglücksfälle und politische Katastrophen, die zu einer „chronischen Angststörung“ geführt habe. In dieser Situation könne dem Schreiben eine Trostfunktion zukommen, erklärt Martin Ebel, weil das Beschriebene in die Vergangenheit rücke. Doch nicht einmal das funktioniere angesichts von Pandemie und Krieg in der Ukraine, ergänzte Magenau, und so könnte das Nachdenken über den Leerlauf beim Schreiben dann auf einer höheren Eben wiederum zu einem neuen, metareflexiven Ansatz in der Literatur führen.

In „Das glückliche Geheimnis“ berichtet der österreichische Romancier Arno Geiger von einer geheimen Sammelleidenschaft: Jahrelang habe er in Wiens Altpapier gewühlt, um Verwertbares zu finden, alte Bücher, aber auch viele Briefe, die Eingang gefunden haben in sein Werk. Dieses Eingeständnis ist mit Erinnerungen an seinen Werdegang als Schriftsteller und zahlreichen familiären Bekenntnissen verbunden, über die Jörg Magenau süffisant anmerkte: „Das ist alles sehr nett, die Geschichten gehen immer sehr gut aus.“ Skepsis wurde in der Runde über Geigers These geäußert, in den gefundenen Briefen und authentisch formulierten Tagebüchern sei oft mehr zu finden als in einer „verkünstelten“ Literatur. Martin Ebel zeigte sich beeindruckt über die „kleine Kulturgeschichte aus der Perspektive des Papiermülls“, die zeige, wie sich die Gesellschaft verändere.

Über diese Bücher wurde diskutiert

Platz 7 (37 Punkte) Simon Strauß: Zu zweit

Ein Mann liegt schlaflos in seinem Zimmer. Der Regen klatscht auf das Dach; Helikopter kreisen über dem Haus. Eine Frau hat sich auf ein Floß gerettet. Was sich anbahnt, ist eine Annäherung unter ungewöhnlichen und widrigen Bedingungen.

Platz 4 (43 Punkte) Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt: Durch einen Zufall fällt einem jungen Mann ein verschollen geglaubtes Kultbuch in die Hände. Er macht sich auf, dessen Rätsel zu klären. Ein Genremix, das sich des kolonialistischen Erbes annimmt.

Platz 2 (90 Punkte) Kerstin Preiwuß: Heute ist mitten in der Nacht

Ein ungemein gegenwärtiges Buch, in dem eine Erzählerin mit einer dünnen Membran gegenüber der Außenwelt die Gefühle unserer Zeit beschreibt. Preiwuß übersteigt das eigene Unglück, indem sie es verallgemeinert.

Platz 9 (26 Punkte) Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

Arno Geigers glückliches Geheimnis: Fünfundzwanzig Jahre lang unternahm er Streifzüge durch Wien, durchsuchte Altpapiertonnen. „Im Müll wohnt die Wahrheit.“ Was er beim Sammeln entwickelt, ist der empathische Blick auf Menschen.

Literatur SWR Bestenliste März

Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.

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