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Mary Ruefle: Mein Privatbesitz

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Der längste Eintrag dieses schmalen, aber reichen Buches gab ihm auch seinen Titel, umfasst gerade einmal 16 Seiten und beginnt mit den einigermaßen frappierenden Sätzen: „Es ist doch wirklich traurig, dass heutzutage niemand an der Kunst des Kopfschrumpfens Interesse zeigt. Männer, Frauen, Kinder gehen durch die Straßen, sie überqueren Felder und betreten Wälder, sie laufen an Meeresstränden entlang, doch soweit ich weiß, ist niemand unter ihnen, der an Schrumpfköpfe denkt.“

Was folgt, ist zum einen ein kulturhistorischer Abriss über die Technik der Schrumpfköpfe als auch eine Reflexion darüber, wie die Gedanken sich in einem Kopf manifestieren und ob es nicht ein Zeichen von Liebe gegenüber den Verstorbenen wäre, ihre auf Orangengröße reduzierten Köpfe aufzubewahren.

Es wäre falsch, diesen Text exemplarisch für die Kunst Mary Ruefles zu nennen, denn das Charakteristische an dieser vor Originalität, Einfallsreichtum und Klugheit flirrenden Kurz- und Kürzestprosa ist vor allem der Umstand, dass sie ihre Leser jederzeit zu überraschen vermag. 2020 wurde ihre Arbeit für den Pulitzer Prize nominiert.

Die 1952 geborene Amerikanerin Mary Ruefle besitzt nach eigenen Angaben keinen Computer und lebt abseits der großen Metropolen in einer Kleinstadt in Neu-England. Der Stoff, aus dem sie schöpft, kommt allein aus ihrem Kopf und aus ihrem Körper.

Dass Esther Kinsky „Mein Privatbesitz“ ins Deutsche übertragen hat, ist bereits eine Qualitätsgarantie an sich. Mit Mary Ruefles Augen die Welt zu betrachten, weitet den Horizont.

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AUTOR/IN
SWR