Platz 8 (27 Punkte)

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

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Allein der Auftakt dieses Romans ist ein Genuss: In das Wohnzimmer des Vaters des Ich-Erzählers Edgar marschieren 80 Strafgefangene ein – um einem Hauskonzert beizuwohnen. Die Häftlinge bestaunen die Möbel, die hier an die Wände gerückt wurden, um Platz für die Stühle zu schaffen: Sie wurden allesamt in der Gefängnistischlerei hergestellt. Das ist kein Wunder, denn Edgars Vater ist der Leiter der Haftanstalt. Das Einzige, so sagt ein Gefangener lachend, was hier aus Holz und nicht durch seine Hände gegangen sei, sei der Konzertflügel.

Der Schauspieler Edgar Selge ist 73 Jahre alt. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben, der beileibe nicht der oft zurecht befürchtete Schnellschuss ist, der auf den Promistatus seines Verfassers baut. „Hast du uns endlich gefunden“ ist der Roman eines Aufwachsens in der ostwestfälischen Provinz in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren. Mit Ausnahme der Mutter ist die gesamte Familie musikalisch begabt.

Der Vater erklärt dem Sohn die Welt mit Kleist und Goethe. Das aber hindert ihn nicht daran, zu körperlicher Gewalt zu greifen, wenn Edgar aus der Norm fällt, wenn er lügt oder heimlich ins Kino geht. Kultur schützt nicht vor Grausamkeit. Zugleich ist der Hintergrund der Elterngeneration, ihre Prägung durch Krieg und Nationalsozialismus, stets präsent. Ein altersreifes Buch.

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SWR