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Ivo Andrić: Insomnia

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Der 1892 in Bosnien geborene Ivo Andric hat sich mit seinem Roman „Die Brücke über die Drina“ in den Rang eines international renommierten Nationaldichters des Vielvölkerstaates Jugoslawien hineingeschrieben. Andric, Literatur-Nobelpreisträgers des Jahres 1961, starb 1975.

Nun hat Michael Martens, der mit „Im Brand der Welten“ die viel gelobte Biografie Andrics verfasst hat, aus dessen Nachlass ein Buch mit einem ungewöhnlichen Schwerpunkt zusammengestellt.

Sein Leben lang hat Andric sich, unter anderem bei den Recherchen zu seinen Romanen, kurze Notizen gemacht; scheinbar flüchtig hingeworfene Beobachtungen auf Reisen, aber auch Reflexionen über sehr persönliche Themen wie das Altern, den körperlichen Verfall – und die Schlaflosigkeit.

Wenn man diese Notizen zu lesen beginnt, erfasst einen umgehend der Tonfall eines großen Schriftstellers: „Wenn man in solchen Nächten“, so schreibt Andric, „wenigstens für einen Augenblick allein sein könnte, mit stummen Lippen, geschlossenen Augen, versiegelten Ohren, entspannten Muskeln im Dunkeln. Aber nein.“ Hier treibt ein unfreiwillig Wachliegender Gewissenserforschung in einer Schonungslosigkeit, die erschreckend ist.

In den Nächten ziehen sie vor seinem inneren Auge vorüber, Menschen, denen dieses sich erinnernde Ich geschadet oder Unrecht getan hat, Gedanken an helle Momente oder verflossene Lieben. In späteren Jahren dann auch die Resignation angesichts des nachlassenden Augenlichts und die Einsicht in ein allgemeines Nachlassen: „Es wird die Zeit kommen, da ich euch nichts mehr zu sagen haben werde.“ Auf diesen schmalen, aber imposanten Band trifft das gewiss nicht zu.

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AUTOR/IN
SWR