Platz 1 (62 Punkte)

Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck

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Vatergeschichte Nummer eins: Wieder einmal die französische Provinz, wieder einmal das unterprivilegierte Milieu. Annie Ernaux allerdings ist wesentlich eleganter und weit weniger polemisch als der Gelbwestenverteidiger und Superstar Édouard Louis. Der Vater stirbt im Alter von 67 Jahren, ein Jahr, bevor er sich zur Ruhe setzen wollte. Gemeinsam mit der Mutter hat er einen kleinen Laden mit angeschlossener Kneipe geführt; die Treppe zur Wohnung darüber ist so schmal, dass man den Vater nicht in einem Sarg abtransportieren kann, sondern in einem Plastiksack heruntertragen muss.

Keine 100 Seiten umfasst Ernaux‘ im Original bereits 1984 erschienene Annäherung an den Vater und dennoch verbirgt sich darin eine ungeheuer vielschichtige, feinsinnige Selbstbeobachtung und Milieustudie. Die Tochter, die auf die höhere Schule geht und die Eltern mit Stolz erfüllt, entfernt sich jedoch gleichzeitig von ihnen und begreift diese Entfernung als Verrat. Die permanente Scham des Vaters, die Sehnsucht nach sozialem Aufstieg und die gleichzeitige Angst, zu hoch hinaus zu wollen. Die Erzählung der Kindheit des Vaters in ländlichen Verhältnissen ist alternativlos trist. Und die permanente Reflexion der Autorin selbst, die sich fragt, warum es ihr so große innere Widerstände bereitet, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Ein schmaler, großer Text.

Zur Autorin:

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden.

Preise
Man Booker International Prize (Shortlist) 2019
Premio Strega Europeo 2016
Prix des lecteurs du Télégramme 2009
Prix de la langue française 2008
Prix François Mauriac de l'Académie Française 2008
Prix Marguerite Duras 2008
Prix Marguerite-Yourcenar 2008
Prix Renaudot 1984

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AUTOR/IN
SWR