Buchkritik

Bernadine Evaristo – Mr. Loverman

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AUTOR/IN
Judith Reinbold

Gewitzt und humorvoll erzählt Bernadine Evaristo in ihrem neuen Roman vom Leben der karibischen Diaspora in England, vom Erwachsen- und Älterwerden, von inneren Konflikten, Familienstreitigkeiten und dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen.

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„Seitdem sind die Wochenenden wieder so, wie’s sein soll, ruhig und behaglich […]. Daran bin ich gewöhnt. Das ist, was ich kenn. Damit fühl ich mich sicher. Und doch soll ich’s verlassen? Ja, ich werd mutig sein und es tun, oder nicht?“

Um diese Frage dreht sich die Geschichte von Barry, der seine Frau für seine große Liebe verlassen will. Was nach einer schon oft gehörten Lovestory klingt, wird bei Bernadine Evaristo zu einem ungewöhnlichen Trip durch die moderne Gesellschaft – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei der großen Liebe von Barry um dessen Jugendfreund Morris handelt.

Die Geschichte von Barrys geplantem Coming-Out bildet den Rahmen, in dem die unterschiedlichsten Biografien versammelt sind: Wir lernen seine Töchter Donna und Maxine kennen, deren feministische Grundhaltung Barry manchmal ordentlich auf die Nerven geht. Und Enkel Daniel, der seinem Granny gerne das Internet und andere neue Trends erklären würde. Außerdem ist da Ehefrau Carmel, die mit sich selbst hadert und versucht, all den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden.

Barry wiederum kann nur schwer mit Veränderungen umgehen und scheint außerdem ein Alkoholproblem zu haben. Er fühlt sich auch in der LGBT-Szene nicht wirklich aufgehoben. Im Gegenteil, er hat da eigentlich einiges auszusetzen und die Ansichten manches Gleichgesinnten laufen ihm völlig zuwider: Er will weder ein rosa Schirmchen im Getränk noch ein elegantes Handtäschchen tragen. Und in gesellschaftliche Schubladen will er sich gleich gar nicht einordnen lassen. Auf eigenwillige, aber doch sehr humorvolle Art erzählt der Ich-Erzähler aus seinem Alltag und lässt uns unvermittelt an seinen manchmal reichlich flapsigen Gedanken teilhaben:

„Carmel war eine spätberufene Frauenbewegte: erste Emanzengeneration. Ihren BH hat sie zwar nicht verbrannt, dem Himmel sei Dank, der Busen meiner Frau konnte sich stets auf hochstabile Stützkonstruktionen verlassen.“

Besonders wenn Barry betrunken ist – und das passiert bei seiner Vorliebe für Rum-Cola häufig – geht das mit reichlich provokanten Äußerungen einher. Und nach manchem Kommentar bleibt ein bitterer Nachgeschmack.

„Aber was soll’s, ich bin ganz in Rum mariniert und fühl mich super, wie die schwarzen GIs immer sagten, die damals, in meiner Jugend, auf meiner Insel stationiert waren. Oh Lord, das warn welche! Galant, gepflegt und mit einer Selbstsicherheit, die uns kolonialem Fußvolk völlig fehlte.“

Das ist natürlich Rollenprosa, mit der Bernadine Evaristo bewusst provoziert. Die Leserin merkt bald, dass hinter den draufgängerischen Sprüchen Barrys eigentlich ein lieber Kerl steckt. Das zeigt vor allem sein Umgang mit Lieblingstochter Maxine: Er unterstützt sie bedingungslos, egal wie skurril er ihre Ideen findet – zum Beispiel den Business-Plan für eine extravagante Modekollektion, bei der Kleidungsstücke mit essbaren Verzierungen versehen sind oder zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert werden können. 

Gewinnend ist auch seine liebevolle, neckische Art gegenüber Morris. Nach und nach kommt die Vermutung auf, dass Barry mit seinem poltrigen Auftreten womöglich nur die eigene Verletzlichkeit verdecken will.

Abwechslung bringen die Passagen, in denen Carmel als Ich-Erzählerin auftritt. In einer Art Selbstgespräch versucht sie ihre Selbstzweifel zu ergründen und sich der Vergangenheit mit all den Fehltritten und Rückschlägen zu stellen.

„[…] hast dich wieder verzogen und kamst dir entsetzlich blöd vor. Angst hast du trotzdem noch, irgendwas führt er im Schilde. Aber wie kannst du dich beklagen, wo doch alle so neidisch auf dich warn“

Gegenüber Barrys extrovertierter Art wirkt Carmel eher blass, ja, fast langweilig: Aber während er sich mit seinen ambivalenten Gefühlen ständig im Kreis dreht, hält Carmels Geschichte überraschende Wendungen bereit.

Bernadine Evaristo erzählt, wie wir es bereits von ihrem Erfolgsroman „Mädchen, Frau, etc.“ kennen, in einer lakonischen und direkten Sprache. Sie beherrscht die Kunst, aus der Alltagssprache ihrer Figuren große Literatur zu zaubern: Gewitzt, humorvoll und mit wohltuender Leichtigkeit erzählt sie von den Lebenswelten, die hier aufeinanderstoßen.

Und doch verschweigt sie nicht, dass zum Leben auch schmerzhafte Momente gehören: Barry und Carmel werden mit dem Tod der Eltern konfrontiert, erzählen vom Großwerden im verarmten Inselstaat Antigua, von Streit, Selbstzweifeln und homophoben Übergriffen.

Die gesellschaftlichen Debatten um Feminismus, Rassismus und Klimawandel sind das Hintergrundrauschen, vor dem Evaristo von den persönlichen Gefühlslagen und Erfahrungen ihrer Figuren erzählt. Diese eröffnen uns in ernsten, teilweise aber auch höchst amüsanten bis komischen Dialogen einen Einblick in ihre Lebenswelt.

Der Aufbau des Buches erinnert an ein Kammerspiel mit einzelnen Akten, die sich jeweils einem Schwerpunktthema widmen. Locker und leicht – aber keineswegs oberflächlich – erzählt Evaristo vom Mikrokosmos der karibischen Diaspora in England.

Der Roman macht Mut und greift gesellschaftliche Missstände ebenso auf wie persönliche Sorgen und Nöte. Immer wieder gibt es kleine Überraschungen und am Ende steht ein vielleicht etwas zu versöhnlicher Schluss, den man aber durchaus verzeihen kann.

Literatur Man-Booker-Literaturpreis für Margaret Atwood und Bernardine Evaristo

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