SWR2 Buch der Woche am 18.04.2016

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Stand
AUTOR/IN
Stefanie Laaser

Wer mit 24 Jahren als jüngster Autor beim Diogenes Verlag debütiert, bei dem hängt die Messlatte hoch. 2008 hatte Benedict Wells mit seinem Roman "Becks letzter Sommer" solchen Erfolg, dass ihn fortan der Nimbus eines Art Schriftsteller-Wunderkinds umgab. Für seine Folgeromane bekam Wells allerdings durchwachsene Kritiken.

Nach den einsamen Jahren als junger Erwachsener, in denen er tagsüber gejobbt und nachts geschrieben hatte, beschloss Benedict Wells dann, erst einmal die Welt kennenzulernen und eine längere Pause einzulegen. Mit "Vom Ende der Einsamkeit" meldet er sich nun zurück.

xxVon der Brüchigkeit eines Idylls

Die Geschwister Jules, Marty und Liz wachsen wohlbehütet und unbeschwert im München der 1970er und 80er Jahre auf. Jeden  Sommer fahren sie mit ihren Eltern nach Südfrankreich, ins Heimatdorf des Vaters. In wenigen Sätzen skizziert Benedict Wells in seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" das mediterrane Idyll: Thymiansträucher, Krüppeleichen, das mit Efeu überwachsene Haus der seltsam abweisenden Großmutter, Pétanque-Spiele und Tanzfeste im Lampionschein auf dem Dorfplatz.

Dann lenkt Wells das Geschehen auf eine kleine Szene, die wie ein Vorbeben die spätere Katastrophe ankündigt. Als Jules, der Jüngste, sieben Jahre alt ist, werden die drei Kinder bei einem Picknick am Fluss Zeugen eines Unglücks, während ihre Eltern einen Spaziergang machen: Der Hund einer Familie, die am gegenüberliegenden Ufer rastet, wird beim Versuch, einen Ast aus dem Wasser zu fischen, von der reißenden Strömung erfasst und ertrinkt.

Das erste Unglück tritt ein – folgen weitere?

Die Verzweiflung der fremden Familie erlebt Jules noch als letztlich unbeteiligter Beobachter. Dreieinhalb Jahre später kommen die Eltern von Jules, Marty und Liz kurz nach Weihnachten bei einem Autounfall ums Leben. Die geborgene Welt, in der die Geschwister bisher gelebt haben, versinkt in "dunklem Staunen und einem dichten Nebel", wie Jules es im Rückblick beschreibt. Im Alter von elf, 13 und 14 Jahren werden die drei Vollwaisen auf ein einfaches Internat auf dem Land geschickt und dort gleich am ersten Abend voneinander getrennt. Auf den Verlust der Eltern folgt der der Geschwister, die sich fortan nur noch gelegentlich auf den unterschiedlichen Fluren besuchen können. Wie wirkt sich so ein Unglück auf das weitere Leben aus?

Wie unterschiedlich seine Hauptfiguren den Tod ihrer Eltern verarbeiten, zeigt Benedict Wells nun in der Schilderung der düsteren Internatsjahre.

Während die schöne Liz, von ihrer Verantwortung als Älteste überfordert, sich in Sex und Drogen verliert, verschanzt sich der hochintelligente Marty hinter seinem Heimcomputer und macht später Karriere als Internet-Pionier.

Jules, der als Kind keine Angst kannte und es gewohnt war, immer im Mittelpunkt seiner Klasse zu stehen, wird im Internat zum stummen Einzelgänger. Er flüchtet sich in Tagträume und würde im wirklichen Leben ein komplettes Schattendasein führen, wäre da nicht seine Klassenkameradin Alva, die sich zu ihm hingezogen fühlt, weil sie selbst gerade eine familiäre Katastrophe durchlebt hat.

Glückliche Kindheit, einsame Jugend – was folgt?

Sehr eindringlich gelingt es Benedict Wells, die vielen Glücksmomente der frühen Kindheit und dann die traumatischen, einsamen Jugendjahre seines Helden zu schildern. Hier schöpft der Autor, der selbst seine gesamte Schulzeit in Internaten verbracht hat, vermutlich auch aus eigener Erfahrung.

Für die Beschreibung dessen, was Jules, Marty, Liz und die verschlossene Alva dann als junge Erwachsene umtreibt, greift der Autor hingegen gerne auf die üblichen, klischeegewordenen Befindlichkeiten seiner Generation zurück – Melancholie, Unentschlossenheit, ein Hang zu nostalgischen Zitaten aus Literatur, Film und Musik.

Von sich selbst hat Wells einmal gesagt, er sei eine Mischung aus einem 14- und einem 40-Jährigen, als klassischer Twen habe er sich nie gefühlt. Das spiegelt sich in seinem neuen Roman, denn sobald seine Figuren auf die 40 zugehen, werden aus den eher stereotypen, etwas schattenhaft skizzierten jungen Erwachsenen wieder vielschichtige, authentisch wirkende Persönlichkeiten.

"Seine" Jahre: Ü30

Benedict Wells ist inzwischen 32 Jahre alt. Er nähert sich also allmählich dem Lebensalter, in das er sich schon in seinem Erstlingsroman "Becks letzter Sommer" so gekonnt hineingeschrieben hat. In "Vom Ende der Einsamkeit" befinden sich auch die Eltern der drei Geschwister in dieser krisenanfälligen Zeit zwischen 30 und 40. Besonders eindrücklich wird der Vater porträtiert:

Doch aus dem charmanten Familienvater wird drei Jahre später ein gebrochener, ängstlicher Mensch, was Benedict Wells sehr präzise ins Bild einer "geduckten Gestalt" fasst. Ausgelöst wurde dieser Persönlichkeitswandel möglicherweise durch die Untreue seiner Frau, die aber als denkbare Interpretation nur ganz vage angedeutet wird.

Wie wird ein Leben, was es wird?

Überhaupt ist das Schöne an Benedict Wells' Roman, dass er vieles in der Schwebe lässt. Ob die Kindheit der drei Geschwister ohne den Tod der Eltern so heiter geblieben wäre, wie sie war, ist anzuzweifeln. Konkrete Hinweise für diesen Verdacht bekommt man aber nicht. Und auch das Glück von Jules und Alva, die in ihren Dreißigern endlich zueinander finden und zwei Kinder bekommen, wirkt trotz aller Liebe schon fragil, bevor Alva erkrankt.

Das sind die stillen Dramen, die Wells gekonnt antippt, und die ein Leben zuweilen ebenso an den Abgrund führen können wie die gnadenlosen Schicksalsschläge, die in diesem Roman dicht aufeinanderfolgen. An mancher Stelle würde man sich wünschen, dass das, was den Figuren zustößt, in einem etwas realistischeren Maß gehalten wäre. Andererseits dient die Konzentration der Katastrophen dem Autor dazu, seine Fragestellung zu verdichten: "Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?"

Um darauf eine Antwort zu finden, gestaltet er seine Charaktere zunächst scheinbar eindimensional: Liz, die glamouröse große Schwester, Marty, der unbeliebte Nerd, Jules, der Träumer. Doch aus diesen Festlegungen brechen die Figuren über die Jahre glaubhaft aus. Das Leben hat sie zu anderen gemacht, im Guten wie im Schlechten. 

Am Ende viel Trost

Der Roman von Benedict Wells wird von einem wehmütigen Ton und einer schlichten, schönen Sprache getragen. In Verbindung mit gewitzten Dialogen und einer cleveren, für Spannung sorgenden Dramaturgie ist diese Mischung sehr einnehmend. Zudem baut Wells überraschende Wendungen ein: Lange Zeit nimmt man als Leser arglos für bare Münze, was sich dann wie nebenbei als Trugbild erweist.

Vieles wirkt allerdings doch sehr konstruiert, damit am Ende auch alles zusammenpasst – etwa der Selbstmord des ersten Ehemanns von Alva, der für finanzielle Absicherung sorgt und den Weg freimacht für das gemeinsame Familienglück mit Jules sowie für dessen späte berufliche Selbstfindung.

Dafür ist aber das Ende des Romans dann nach dem letzten, schwersten Schlag so wärmend, tröstend und von einer so zwingenden emotionalen Logik, dass man den Figuren nach der Lektüre noch lange Zeit in Gedanken folgt.

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Stefanie Laaser