Buchkritik

Yishai Sarid: Monster. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Stand
AUTOR/IN
Nadja Odeh

Tourguide in Auschwitz: Der Erzähler in Yishai Sarids neuem Roman ist Historiker und so reingerutscht in diesen Job. Er führt israelische Schulklassen, Gruppenreisende und Politiker durch Holocaust-Gedenkstätten im heutigen Polen.

Wie aber umgehen mit unruhigen Schülern und phlegmatischen Touristen sowie einer vom israelischen Staat vorgeschriebenen Erinnerungspädagogik? Ein intelligenter Roman, erzählt von einem scharfsinnigen und zunehmend verzweifelten Erzähler.

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Bericht an die oberste Instanz des Holocaust-Gedenkens

Dieser Roman endet mit einem Faustschlag ins Gesicht. Einem Faustschlag, der zugleich am Anfang der Geschichte steht. Denn der Ich-Erzähler des neuen Romans von Yishai Sarid gibt einen erklärenden Bericht über das, was vorgefallen ist.

Adressat ist sein Chef. Der Direktor der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Ihn spricht der Erzähler an, als "offiziellen Repräsentanten" der Erinnerung.

Die gemeinsame Erinnerung soll die israelische Identität kitten

Dieses Amt mutet kafkaesk an. Doch die Institution Yad Vashem ist real. Und das Holocaust-Gedenken das zentrale Thema des Romans. Autor Yishai Sarid hat sein Buch in eine israelische Gesellschaft hineingeschrieben, die sich, politisch zerrissen wie nie zuvor, umso mehr auf den Holocaust als zentrales Element der kollektiven Identität stützt.

Was früher ein Tabu war, ist heute allgegenwärtig

Kein Tag, ohne dass der Holocaust nicht in irgendeinem Medium Erwähnung findet. Das war nicht immer so. In den 50er Jahren war der Holocaust geradezu ein Tabu. Die Überlebenden standen für „Schwäche“ und: unter dem Generalverdacht, auf Kosten anderer überlebt zu haben.

Im heutigen Israel hingegen kommen schon Vorschulkinder in den Genuss von Unterrichtseinheiten zu diesem Thema.

Der Ich-Erzähler ahnte die Gefahr, die ihm drohte

Werden regelmäßig Schülerreisen nach Polen in die ehemaligen Konzentrationslager organisiert, bezeichnen sich mittlerweile, so der Historiker Tom Segev, acht von zehn Oberschülern als Holocaustüberlebende, selbst wenn sie aus jüdisch-arabischen Familien stammen.

Eigentlich wollte sich Yishai Sarids Ich-Erzähler genau dem entziehen: „Mir graute vor der modernen Geschichte, die mir wie ein mächtiger tosender und schäumender Wasserfall vorkam“, schreibt er und: „Die Turbulenzen und Katastrophen unseres Volkes wollte ich meiden, erahnte schon zu Beginn des Weges die Gefahr, die mir drohte.“

Holocauststudien sind die einzige Karrierechance für Historiker

Wenn er als Historiker in Israel eine Karrierechance haben möchte, dann müsse er in Holocauststudien promovieren, wird dem namenlos bleibenden Ich-Erzähler bedeutet. Es ist eine geradezu klaustrophobische Situation, aus der es von Anbeginn kein berufliches und persönliches Entrinnen zu geben scheint.

Obwohl ihm davor graust, ergibt er sich. Aus finanziellen Gründen – schließlich muss er seine kleine Familie ernähren - beginnt der Ich-Erzähler zudem, Gruppen durch den Museumskomplex von Yad Vashem in Jerusalem zu führen, und bald schon arbeitet er in den ehemaligen Vernichtungslagern selbst.

Israelische Schülergruppen werden ins Herz der Erinnerung geführt

Als Tourguide in Polen. Vor allem für israelische Schülergruppen. Er befindet sich also, erinnerungstechnisch, im Auge des Sturms.

Ich weiß nicht, ob Sie diese Jugendreisen je begleitet haben, ob sie mal nachts mit den Schülern geflogen und dann sieben oder acht Tage mit ihnen unterwegs gewesen sind, ob Sie vor ihnen gestanden haben und ihnen wieder und wieder erklärt haben, was dort in den Wäldern, den Ghettos, den Lagern geschehen ist, ob Sie versucht haben, ihre Mienen aufzubrechen, in ihr vom Handyflimmern erfülltes Denken einzudringen, ihnen den Tod zu verdeutlichen, ob Sie ihnen Daten und Fakten und Nummern geliefert haben, während die Jugendlichen Ihnen, in Flaggen gehüllt, nachliefen, vor den Gaskammern die Hatikwa sangen, auf den Erdhügeln Kaddisch sagten, im Gedenken an die Kinder in den Gruben Gedenkkerzen entzündeten und allerlei selbst erfundene Rituale zelebrierten, um ihren Augen eine Träne abzuringen, oft fragte ich mich, ob Sie das einmal miterlebt haben.

Yishai Sarids Roman heißt auf Hebräisch: Mifletzet HaSikaron, „Monster der Erinnerung“. Doch wer oder was eigentlich ist hier mit Monster gemeint? Das, was die Erinnerung erinnert? Gar die Erinnerung selbst, oder werden womöglich diejenigen, die da erinnern, selbst zu Monstern?

Der Zwang zum Gedenken offenbart die Risse in der Gesellschaft

Seltsamerweise hörte ich sie gerade in Majdanek, auf dem wenige Hundert Meter langen Weg von der Gaskammer zum Mausoleum und Krematorium über Araber reden. In Flaggen gehüllt flüsterten sie: Araber, so müsste man es mit den Arabern machen. Nicht immer, nicht bei allen Gruppen, aber häufig genug, um mir im Gedächtnis zu bleiben.

Yishai Sarid bringt in seinem Roman drastisch die Risse innerhalb der israelischen Gesellschaft zur Sprache: den Hass zwischen Juden und Arabern, zwischen den aus Europa stammenden Aschkenasen und den orientalischen Mizrachim, zwischen Rechten und Linken.

Es sind Risse, die das Erinnern, so wie es auf der politischen Agenda steht und so wie es praktiziert wird, nicht zu kitten vermag, im Gegenteil.

„Menschen wie die Deutschen können wir schwerlich hassen“

Gleichzeitig scheinen die Opfer in einer zunehmend nationalistischen Erinnerungskultur, die allein auf Stärke setzt, aus dem Blick geraten, während man den eigentlichen Tätern implizit Bewunderung zollt:

Auf die Deutschen hatten sie keinen Hass, die Kinder in meinen Gruppen, ganz und gar nicht, nicht einmal annähernd. Die Mörder kamen kaum vor, in dem Narrativ, das sie sich schufen. (…) Die Polen waren ihnen viel eher verhasst. Wenn wir in Städten und Dörfern auf der Straße unterwegs waren, mit der örtlichen Bevölkerung in Berührung kamen, machten sie abfällige Bemerkungen - über Pogrome, die Kollaboration, den Antisemitismus. Aber Menschen wie die Deutschen können wir schwerlich hassen. Schaut Euch die Fotos aus dem Krieg an, man muss der Wahrheit die Ehre geben, sie sahen total cool aus in diesen Uniformen, auf ihren Motorrädern, entspannt, wie Models auf Straßenreklamen.

Die israelische Holocaustgedenkkultur wird radikal in Frage gestellt

Schüler, deren patriotische Batterien vor dem Militärdienst noch einmal aufgeladen werden sollen, ein Minister, der in Treblinka für Fotografen post, junge Startup-Unternehmer, die ein möglichst realitätsnahes KZ-Computerspiel entwickeln, Regierungsfestakte zum Zwecke von Machtdemonstration.

Yishai Sarids Roman stellt die israelische Holocaustgedenkkultur radikal in Frage. Schonungslos beschreibt er ihren Gebrauch und ihren Missbrauch, der, so sein raffinierter Subtext, für niemanden folgenlos bleibt.

Der verzweifelte Ich-Erzähler verliert zum Ende hin die Fassung

„Monster“ ist geradezu ein Tabubruch. Ein atemberaubend mutiges und ehrliches Buch. Dazu noch brillant geschrieben, mit der Stimme eines scharfsinnigen Erzählers, der in zunehmender Verzweiflung die Fassung verliert.

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Nadja Odeh