SWR2 Buch der Woche vom 5.8.2018

Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr

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AUTOR/IN
Alexander Wasner
Alexander Wasner, Autor und Moderator bei SWR Kultur (Foto: SWR, Alexander Wasner)
Meike Fessmann

Bodo Kirchhoff nennt „Dämmer und Aufruhr“ einen „Roman der frühen Jahre“. Er verarbeitet darin Kindheit und Jugend. Sein eigenes Leben liefert ihm schon immer literarischen Stoff, hier noch deutlicher als sonst. Literaturkritikerin Meike Fessmann hält den Roman für den besten von Kirchhoff.

Kirchhoffs bester Roman

Ein Grund dafür ist die glückliche Auswahl der Erzählebenen.

Erstens gibt es die chronologische Erzählung, sie beginnt mit dem Erwachen des Bewusstseins des Vierjährigen. Kirchhoff erzählt von einem Gewitter 1952 in Kitzbühel. Die Mutter schließt die Fenster, zieht sich aus, der Knabe setzt sich auf den Rücken seiner Mutter, erkundet den Körper der Mutter, unter anderem mit einem Bleistift. Eine stark aufgeladene Szene für jemanden, der über die Psyche bei Lacan promoviert hat. Und gleichzeitig ein Bild für eine vaterlose Landschaft.

Dieser Chronologie folgt Kirchhoff bis 1979, da erscheint erste Novelle im Suhrkamp-Verlag.

Die zweite Ebene ist die interessanteste: Der alte Sohn besucht seine Mutter – der Roman lebt von harten Schnitten.

Die dritte Ebene ist die Schreibsituation, der Roman entsteht an der Küste Liguriens in einem Hotel in Alassio. Der Erzähler hat ein Zimmer mit Meerblick gemietet – es ist genau das Zimmer, in dem seine Eltern zuletzt einige Tage glücklich waren.

Eine Kindheit in der Armut der Nachkriegsjahre

Der Roman beginnt in der Nachkriegszeit. Ohne den zweiten Weltkrieg hätten die Eltern nie zusammengefunden. Der Vater ist kriegsbeschädigt, hat ein Bein verloren, ist trotzdem ein sehr attraktiver Mann, gründet eine Firma für medizinische Geräte, die im Roman mehrfach an den Rand des Bankrotts gerät.

Die Mutter träumt als Schauspielerin vom glamourösen Leben. Die Armut der Nachkriegszeit bildet den Hintergrund für den Roman.

Während in den anderen Büchern oft der Wunsch des Autors spürbar ist, die Schickeria, den Glamour und Luxus zu schildern, spürt man in diesem Roman den Schatten, aus dem Bodo Kirchhoff heraustreten will.

Ein Junge, der aus seiner Welt hinauskatapultiert wurde

Im Roman gibt es zwei große traumatische Erfahrungen des Erzählers. ZTum Einen die frühe Scheidung der Eltern. Sie führt dazu, dass Kirchhoff in ein Internat nach Gaienhofen geschickt wird. Dort wird er als Elfjähriger lange Zeit vom Chorleiter, einem Kantor, missbraucht.

In den ersten Rezensionen steht diese Erfahrung häufig im Vordergrund. Kirchhoff hat zwar schon mehrfach davon erzählt, aber jetzt erhält er erhöhte Aufmerksamkeit für diese Geschichte. Die Perspektive, die er einnimmt, ist die eines Jungen, der aus seiner Welt herauskatapultiert wurde. Der Kantor nutzt diese Situation aus, der Junge fühlt sich von ihm erwählt. Die Sexualität begreift er in diesem Alter noch nicht. Drei Jahre lang dauert dieses asymmetrische Verhältnis. Schlimme wird es für Kirchhoff als er entdeckt, nicht der einzige „Geliebte“ des Kantors zu sein. Und dass der Kantor vor Gericht kommt.

Wie hat das Bodo Kirchhoff als Schriftsteller geprägt? Kirchhoff schildert eindrucksvoll die Neigung, sich zu exhibitionieren – zum Beispiel in einer Szene, in der er als Vierjähriger nackt vor der Familie auf einem Bösendorfer Flügel tanzt. Er weiß, er muss „ein bisschen was bieten, damit die anderen auf ihn aufmerksam werden“.

Zwei gealterte Menschen: Mutter und Sohn

Der Spiegel nannte Kirchhoff anfangs einen Autor von „Kot und Ekel“. Für die Mutter spielte es eine große Rolle, dass ihr Sohn so bekannt wurde. Ihre Rolle und die gesellschaftliche Entwicklung sind bedeutend:

Dadurch dass viele Alte heute sehr alt werden, gibt es plötzlich eine doppelte Altersstruktur. Der alte Sohn pflegt die alte Mutter, und er erkennt: Die Mutter braucht nur Zärtlichkeit und Zuwendung, aber das kann er ihr nicht geben. Sie war für ihn immer eine Diva. Jetzt muss er sie auf Toilette bringen und sieht, wie sie die Perücke absetzt.

Im Hintergrund gibt es noch die essenzielle Figur der Großmutter in Wien. „Sie ist die Hüterin des verborgenen Körpers, während die Mutter die Herrscherin des offenen Körpers ist“. In diesem Zwiespalt bewegt sich dieser Roman und er schlägt auf die Seite des großmütterlichen verborgenen Körpers aus, nicht mehr als Exhibitionist. Ein stiller, ein inwendiger Roman.

Ein Künstler, der nicht mehr den großen Ruhm sucht

Kirchhoffs Roman kann man als Künstlerroman begreifen – als Erzählung der Künstlerwerdung des erfolgreichen Autors. Ist es damit auch ein klassischer Bildungsroman im Stil Gottfried Kellers oder Goethes? Eigentlich ist das Künstlerwerden nicht das Wichtige an diesem Buch, sondern die Abwertung des Ehrgeizes, der Ruhmsucht.

Hierfür gibt es ein Bild in diesem Roman: Der Vater schenkt beim letzten gemeinsamen Weihnachten seiner Frau einen flamingohaften Frisiertisch aus Metall, und der Sohn sieht sich im Spiegel und empfindet diese Spiegelung als Symbol für Weltruhm. Und genau das ist neu an diesem Roman: Kirchhoff greift in vielen seiner Bücher nach Weltruhm, will sich mit den Großen messen. In diesem Buch dagegen lässt er den Stoff sprechen und ist damit besser als in früheren oft überambitionierten Texten.