Buch der Woche

Hendrik Otremba - Kachelbads Erbe

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AUTOR/IN
Loreen Dalski

„Ich möchte das Ende der Menschheit erleben. Ich möchte einem Anfang beiwohnen.“ Ein starker Satz. Hendrik Otrembas Buch „Kachelbads Erbe“ enthält viele starke Sätze und Momente.

Sein Roman geht zurück in die 80er Jahre. Tschernobyl, Kalter Krieg, Postmoderne. Eine amerikanische Firma bietet im Roman Menschen die Möglichkeit, sich einfrieren zu lassen. Allerdings weiß keiner, wie man sie wieder auftauen kann. Das weiß man bis heute nicht.

„Kachelbads Erbe“ ist weniger Science-Fiction als Krimi und Künstlerroman. Es geht um Träume und um die Bewahrung des Menschen in Schrift und Körper und um das Verschwinden aus der Gegenwart.

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Postmortale Konservierung als Gegenmodell zum Lebensende

Der Tod ist nicht das Ende des Lebens – zumindest nach dem amerikanischen Unternehmen Exit U.S. des Romans Kachelbads Erbe. Die zwielichtige Firma arbeitet im Bereich der sogenannten Kryonik und ist auf die postmortale Konservierung spezialisiert.

Mit dem Verfahren der Kryokonservierung friert sie Organismen mit flüssigem Stickstoff ein, um diese in unbestimmter Zukunft reanimieren zu können. Mutet fantastisch an, besitzt allerdings real existente Vorlagen. 1967 ließ sich James Bedford als erster Mensch nach seinem natürlichen Tod einfrieren.

Die Thematik ist weit entfernt von Science Fiction

Sein Körper wird, mittlerweile neben über hundert weiteren Klienten, von der gemeinnützigen Organisation Alcor tiefgekühlt. Ironischerweise hat sie ihren Sitz in der Wüste Arizonas.

Aktuell gibt es weltweit Unternehmen, die die Ganzkörperkonservierung für einen Unkostenbeitrag zwischen 27.000 und 150.000 Dollar ermöglichen. Dem schmaleren Portemonnaie wird die Konservierung des Kopfes angeboten.

Wege zur realen Reanimation sind bisweilen nicht gefunden und werden ebenso wenig im Roman thematisiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich „Kachelbads Erbe“ schwerlich der Science Fiction-Literatur zurechnen. Auch spielt die Handlung nicht in der Zukunft, sondern vorrangig Mitte der Achtziger in Los Angeles.

Die Toten drohen aufzutauen

Konkret geht es um den Wissenschaftler Lee Wong-Hong und seinen Angestellten Kachelbad, die Menschen auf eigenen Wunsch einfrieren. Der fachgerechte Kälteschlaf ist anspruchsvoll: Es braucht Stickstoff und Eis zur Kühlung, geschmierte Ärzte, die den Transfer in das kryonische Unternehmen ermöglichen, medizinisch geschultes Personal, das die Kühltanks bedient, und allerlei Geschick, um das Unternehmen im Verborgenen zu halten.

Als der Kopf des Unternehmens Wong-Hong bei einem Herzinfarkt stirbt, gerät das Projekt ins Wanken. Kachelbad steht in einem Wettlauf mit der Zeit. Geld und Stickstoff gehen aus, die Toten stehen kurz vor dem Auftauen. Außerdem hat ein hartnäckiger Reporter sich unbemerkt an die Fersen des Unternehmens geheftet und lauert darauf, Kachelbad mitsamt seinen Mithelfern auffliegen zu lassen.

Alles rankt sich um die geheimnisvolle Figur Kachelbad

„Kachelbads Erbe“ ist eine Komposition aus vielen Schicksalen mit je eigenen Stimmen und Textformen. Die Erzählperspektive wechselt oft und neben der Haupthandlung fasst der Roman kurze Erzählungen, Briefe, verschiedenste Tagebuchaufzeichnungen und Tonbandaufnahmen.

Auf den ersten Blick mag die Formenvielfalt verwirrend scheinen. Doch Otremba arrangiert diese klar und nachvollziehbar in fünf Kapiteln um die geheimnisvolle Figur Kachelbad. Der Roman baut seine Spannung gerade auf, indem seine verschiedenen Teile peu à peu die nebulöse Geschichte der Hauptfigur erhellen.

Auch ein Hauch des Fantastischen umgibt den Roman. Die eingeweihten Kryonisten besitzen die Fähigkeit, unsichtbar zu werden und sich den Blicken ihrer Umgebung zu entziehen. Insbesondere Kachelbad bleibt über lange Strecken nicht nur dem Leser, sondern auch seinem Umfeld ein Rätsel.

Der Roman hebt sich von historischen Vorgängern ab

Rosary, Mitarbeiterin von Exit U.S., sind die wahren Beweggründe des alten Mannes bis zuletzt unklar:

Ich blickte Kachelbad an, doch der reagierte nicht. Würde er in einen der Tanks ziehen, eines Tages wenn es zu Ende ging mit ihm? Etwas an seinem Wesen schien mir zu sagen, dass er aus anderen Gründen hier [in Exit U.S.] war. Es ging nicht um seine Zukunft. Er schaute ins Leere und während Lee Wong-Hong wild gestikulierte, schien er irgendwo anders.

Doch was veranlasst die Figuren Otrembas überhaupt zum Einzug in den Tank? Hier hebt sich der Roman originell von historischen Vorgängern ab: Weder buchstabiert er die Kryonik zur Zeitreise aus noch steht sie für eine Utopie der Unsterblichkeit. Der Text eröffnet einen literarischen Reflexionsraum über den möglichen, letzten Menschen, ohne in apokalyptische Szenerien oder naive Utopien abzudriften.

Kitsch findet in Otrembas Roman keinen Platz

Zwar geht es um die Erhebung des Menschen über Zeit und Raum, aber nicht um ein unendliches, sondern schlichtweg ein glücklicheres Leben führen zu können. Wer hier Kitsch und Rührseligkeit vermutet, liegt falsch. Denn der Roman treibt ein komisches Spiel mit Science Fiction-Konventionen, das besonders in den oft skurrilen Vorgeschichten der Tankbewohner zu Tage tritt.

Autor Hendrik Otremba (Foto: Pressestelle, Verlag Hoffmann und Campe / Kat Kaufmann)
Autor Hendrik Otremba

Da wäre die Geschichte des tödlich erkrankten vietnamesischen Auftragsmörders Hô Van Kim, der schleichend die Identität seiner verstorbenen Schwester übernimmt, oder die von der schrulligen Katzendame Charlotte Weinberg, die nur auf die richtige Zukunft wartet, damit sie in die Vergangenheit reisen kann, um ihre wiederum zeitreisenden Eltern zu finden.

Einer der Toten träumt von einem grotesken Neuanfang

Mit der schrägen Figur des Richard Kallmann treibt Otremba das Spiel mit dem Tod auf die Spitze. Kallmann beginnt seine Karriere in den 1920ern als genialer antifaschistischer Autor in einem Freudenhaus. Doch Drogensucht, tiefe Depressionen und die ständige Flucht vor den Nazis treiben ihn in den Ruin, bis er sich nur noch von Äpfeln und Zigaretten ernährt.

Als er den lebensüberdrüssigen Kammerjäger und Nationalsozialisten Ragner Anselm vor dem Suizid bewahrt, kommt ihm die Idee zu einem grotesken Deal:

Ich könnte ihn nach seinem Tod zu Richard Kallmann werden lassen, und alle Welt dächte ich sei tot. Niemand würde mich mehr suchen. […] Ich werde mein Äußeres verändern und mir einen anderen Gang zulegen (den einer Echse!), werde anders zu sprechen mir angewöhnen. Ich, also Neu-Ich, könnte von vorn beginnen. Ich könnte alles hinter mir lassen. Ich bekäme eine zweite Chance, würde zweimal leben. Doch ich würde ja gar nicht von vorn anfangen, nein, das ist falsch. Ich würde auf dem Höhepunkt eines erfundenen Lebens einsteigen. […] Und so geschah es. Anselm von Ragner weinte Tränen der Dankbarkeit, als Kallmann ihm von seinem Plan erzählte. Beide hatten den Verstand verloren, und so bestätigen sie sich: Ja, er (Kallmann) würde ihm (Ragner) helfen (zu sterben), und er (Ragner) würde seinem (Kallmanns) Tod noch einen Sinn geben.

Letztlich bleibt ihm nur der biologische Tod

Es folgt eine blutig explizite Szene à la Quentin Tarantino und nach dem tödlichen Pistolenschuss wird Richard Kallmann zu Shabbatz Krekov. Doch anstatt eines Neubeginns wiederholt sich sein Leben. Es bleibt nur die Exit-Strategie: biologischer Tod.

In seinem Traumtagebuch vermerkt Kallmann alias Krekov:

Ich möchte das Ende der Menschheit erleben. Ich möchte einem Anfang beiwohnen.

Der Roman verdeutlicht eine Paradoxie, die ein Scheitern nahelegt: Während alle Figuren an eine zukünftige, bessere Gegenwart glauben, halten sie zugleich ihre aktuelle Gegenwart nicht für zukunftsfähig. Das Problem: Aus Gegenwart wird bekanntlich Zukunft. Die Hoffnung der Figuren ist eine technikbasierte Transformation eines uralten, religiösen Gedankens: Auferstehung.

Die Konservierung in Eis wird gegen die Konservierung in der Schrift aufgewogen

Ohne metaphysisches Jenseits geht diese aber nicht ganz auf. Denn unprätentiös lässt der Roman Tschernobyl, Aids, Erdbeben oder die Klimakatastrophe einfließen. Im Anblick eines Containerschiffs bemerkt Kachelbad melancholisch:

Eines Tages werden das die Städte sein. […] Dort werden die letzten Menschen leben. Alles wird sich auf den Booten abspielen, weil kein Land mehr da sein wird, das bewohnbar ist, weil die Gletscher geschmolzen sind und der Meeresspiegel gestiegen ist, weil das Wasser die Städte verschluckt hat. Weil die Dummheit der Menschen das Eis geschmolzen hat.

Was nützt vor diesem Hintergrund die Kryonik? Was für ein Erbe kann Kachelbad überhaupt hinterlassen? Der Titel des Romans plausibilisiert sich erst mit fortschreitender Handlung. Die Konservierung in Eis wird gegen die Konservierung in Schrift abgewogen. Bei all der Zukunftsunsicherheit, die Otremba einstreut, bleibt doch eines: Die Literatur als Medium der Erinnerung.

Literatur lässt die Unsichtbaren sichtbar werden

Wer ist unsichtbar? Ist der Körper unsichtbar? Ist die Geschichte unsichtbar? Der, dessen Geschichte nicht aufgeschrieben wird, der ist unsichtbar.

Hierin liegt das Erbe Kachelbads: Er ist ebenso Hüter der toten Körper wie Bewahrer des kollektiven Gedächtnisses. Alle "kalten Mieter" legen ihre Erinnerungen vertrauensvoll in Kachelbads Hände. „Die Toten würden sich doch freuen, wenn die wüssten, dass sie in der Literatur weiterleben.“ bekräftigt der Autor Krekov.

Die Literatur vermag allerdings noch mehr: Sie lässt die Unsichtbaren sichtbar werden. Ob Einsamkeit, Krankheit oder Drogensucht, Kachelbad bringt das Leid literarisch zur Geltung, Zweifellos geschieht das nicht ohne Lust am Leiden.

Kachelbads Erbe ist eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit

Endzeitstimmung, Weltschmerz, das diffuses Schwanken zwischen Zukunftsangst und Aufbruchsstimmung gerahmt von einer morbiden Faszination – all das erinnert an die typischen Themen der Wiener Moderne um die Jahrhundertwende. Wohl nicht zufällig ist das die Zeit, in der ausgerechnet die Autorfigur Krekov in Wien geboren wurde.

Aber weder Krekov noch Otremba lassen das Leid als Selbstzweck stehen. Letztlich bleibt eine Emphase, die Friedrich Nietzsche im 19. Jh. wie folgt zum Ausdruck brachte:

„Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens.“

Kachelbads Erbe ist kein Tiefkühl-Märchen; der Roman ist eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit menschlichen Geltungsbedürfnissen im Angesicht der Vergänglichkeit. Am Ende steht nicht der Weltschmerz, sondern ein Plädoyer für das lustvolle Erinnern, für die Transformation in Literatur. Das macht die Lektüre mehr als lohnenswert.

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Loreen Dalski