Buch der Woche am 9.9.2019

Terézia Mora - Auf dem Seil

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

IT-Spezialist Darius Kopp hat in seinem Leben schon einiges hinter sich. Eigentlich wollte er nur gemütlich seinen Job machen, doch den verlor er. Und er verlor auch seine ungarische Frau Flora, die sich das Leben nahm.

Darius Kopp musste sich bewegen und begab sich auf eine Reise durch Ungarn. Jetzt – im dritten und letzten Teil der Darius-Kopp-Trilogie – ist er zurück in Berlin. Mit den Jahren ist er ein Anderer geworden. "Auf dem Seil" heißt der letzte Teil der Dario-Kopp-Trilogie von Terézia Mora: ein intelligentes, lebenskluges Werk.

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Zweisprachig aufgewachsen zog es Mora schnell nach Berlin

Terézia Mora wurde 1971 im ungarischen Sopron geboren, sie wuchs zweisprachig auf. Ihre Familie gehörte zur deutschen Minderheit. Die Erosion des Ostblocks war für sie eine Befreiung – und das zur rechten Zeit.

Sie ging gleich 1990 nicht etwa nach Wien, was die nächstgrößere Metropole gewesen wäre, sondern nach Berlin, studierte Hungarologie und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität und später Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.

Autorin Terezia Mora (Foto: Pressestelle, Antje Berghäuser)
Autorin Terezia Mora

Schon mit ihren ersten literarischen Schritten hatte sie enormen Erfolg: 1999 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für die Erzählung "Der Fall Ophelia", die im selben Jahr in ihrem Debütband "Seltsame Materie" enthalten war.

Auch als Übersetzerin war Mora tätig

Dass ihr erster, stark rezipierter Roman "Alle Tage" erst 2004 erschien, hatte unter anderem damit zu tun, dass sie zwischendurch Péter Esterházys 900 Seiten starkes Jahrhundertwerk "Harmonia Caelestis" aus dem Ungarischen übersetzte – viele weitere Übersetzungen folgten, unter anderem brachte sie Bücher von István Örkény oder Attila Bartis ins Deutsche.

2009 kam ihr Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" heraus – der Beginn einer Trilogie, die 2013 mit "Das Ungeheuer" fortgesetzt wurde. Sie erhielt dafür den Deutschen Buchpreis. Mora hatte im selben Jahr die renommierte Frankfurter Poetikdozentur inne, und 2018 wurde sie mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet.

Nun schließt sie mit "Auf dem Seil" die Trilogie um ihren Helden Darius Kopp ab.

"Auf dem Seil" ist der letzte Band der Darius-Kopp-Trilogie

Fast zehn Jahre ist es her, dass Terézia Moras Held Darius Kopp durch seine erste große Krise stolperte, ohne es recht zu merken: Damals gehörte er noch zur jüngeren Start-Up-Generation, die trotz aller düsteren Wolken am New-Economy-Horizont fest an die Versprechungen der digitalen Zukunft und die Segnungen des Neoliberalismus glaubte.

Unbedarft schlitterte er hinein in einen persönlichen Bankrott, den er trotz aller Verzweiflung in all seiner naiven Glücksgläubigkeit mehr oder minder ignorierte. Von seiner aus Osteuropa stammenden Frau Flora, einer Übersetzerin, wurde der Sturz immerhin abgefedert.

"Der einzige Mann auf dem Kontinent" hieß dieser Roman, und dass Terézia Mora noch etwas mit dem kopflosen Kopp vorhatte, konnte man da schon ahnen. Drei Jahre später war er wieder da, dieser Mann ohne Eigenschaften, und diesmal erwischte es ihn so richtig.

Protagonist Darius lebt mittlerweile auf Sizilien

"Das Ungeheuer" von 2013 war eine Road Novel durch Osteuropa. Flora hat sich das Leben genommen, Darius Kopp hält es nicht mehr in Berlin. Nun, wieder ein paar Jahre später, begegnen wir Darius zum dritten Mal. Jetzt auf Sizilien.

Darius Kopp stand in der Mitte des Gartens, auf dem freien Platz zwischen Blumenbeet und Olivenbäumen, und sah zum Vulkan hinauf. (…) Die Wolken hatten sich zu einer Halskrause zurückgezogen, der Kegel stand klar. Ein langes weißes Rauchhaar hatte sich gelöst und schwebte hinaus Richtung Meer. Der Blick auf den Vulkan am frühen Morgen und zu jeder anderen Tageszeit: das ist unverderbbar.

Er hat eigentlich kein Zuhause, schlägt sich als Pizzabäcker durch – was seiner Essens-Obsession durchaus entgegenkommt. Und er scheint sich mit dem Abschied aus seinen Träumen abgefunden zu haben.

Ein klassischer Entwicklungsroman? Ja!

"Auf dem Seil" heißt der Roman, und er beschließt eine Trilogie, an der Terézia Mora mehr als zehn Jahre gearbeitet hat. Darius Kopp hat sich in diesen Jahren verändert. Ein klassischer Entwicklungsroman also?

„Ja, schon – und ich freue mich darüber, ich wusste nicht, dass das in ihm steckt, oder ich hab’s irgendwie schon geahnt, weil ich bin sozusagen Kunde für Entwicklungsromane, ich mag es, wenn Leute und Figuren und Werke sich entwickeln, wenn am Ende was anderes da ist als am Anfang. Und da fällt mir ein: Als er entworfen worden ist, war er noch ein wütender Kleinbürger. Ich verstehe zwar auch den ersten Darius Kopp, aber mit diesem hier bin ich dann auch recht zufrieden.“

Die ersten Vorbilder für diesen Darius Kopp waren literarische Angestellten-Figuren, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, erzählt Terézia Mora.

Protagonist Darius Kopp hat berühmte literarische Vorbilder

Johannes Pinneberg aus Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" ist ein Vorfahre Kopps. Oder Wilhelm Genazinos Abschaffel. Aber anders als diese beiden macht Darius Kopp ein paar Erfahrungen, die sich vielleicht nur machen lassen, wenn man zum Ausgestoßenen, zum Flüchtling wird.

„Hier im dritten Teil ist es, glaub ich, ganz bewusst geworden, was dieses Leben in der Fremde mit ihm gemacht hat. Im Grunde alles.
Warum macht sich der Märchenheld auf die Reise? Weil man nicht alles dort finden kann, wo man geboren worden ist, sondern man muss hinaus. Und er ist eher unfreiwillig hinaus, aber ich glaube, er ist ein relativ überzeugter Reisender geworden.
Er tut mir fast leid, dass er zurückkehren muss nach Berlin. Es ist eine relativ schmerzliche Rückkehr, und es war mir auch klar, wenn er zurückkommt, dann war’s das, dann bleibt er, vermutlich.“

Das Verantwortungsgefühl treibt ihn zurück nach Berlin

Die Rückkehr nach Berlin hat mit seiner Familie zu tun, die er eigentlich ebenso hinter sich gelassen hat wie seine Arbeit im IT-Bereich: Aus heiterem Himmel taucht auf Sizilien seine Nichte Lorelei auf, gerade mal 17 Jahre alt und – wie sich bald herausstellt – in anderen Umständen.

Darius Kopp bleibt gar nichts anderes übrig, als ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Mit der schwangeren Lorelei und einem staatenlosen Osteuropäer namens Metin im Schlepptau, der sich in die Nichte verguckt hat, kehrt unser Odysseus also zurück nach Berlin – ohne Geld, ohne Wohnung, zudem noch mit gewaltigen Schulden.

Der Kampf mit dem Alltag als zentrales Moment

Die Büchner-Preisträgerin Terézia Mora interessiert sich in all ihren Büchern für solche Randexistenzen, aus der Peripherie ins Zentrum gespült, dem Alltag ausgeliefert, den sie irgendwie bewältigen müssen.

„Ich muss sagen, ich schreibe darüber, was mir Schwierigkeiten bereitet in meinem Leben, und das sind für mich all die Dinge, die du brauchst, um wie ein normales tüchtiges Mitglied einer Gesellschaft auszusehen.
Ich habe einfach darüber nachgedacht: Was hast du für Aufgaben, wenn du ein 50-jähriger Mann ohne Arbeit, ohne Besitz, ohne Wohnung, ohne Partner bist und in eine Stadt zurückkehrst, deren Sprache du immerhin sprichst und wo du Citizen bist? Du bist da eigentlich Bürger, aber ohne alles, ohne Besitz quasi. Dann musst du halt ein Obdach suchen und eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. All diese Sachen musst du regeln. Wofür? Nicht für etwas Großes und Glamouröses, was du erreichen kannst, sondern nur dafür, am Leben zu bleiben. Zu leben, bis du stirbst.“

Die große Kunst von Terézia Mora ist es, die Irritationen und Zweifel ihrer Figuren mit Empathie zu erzählen und mit wohltuender ironischer Distanz. Zwischen verschiedenen Perspektiven hüpft sie leichtfüßig hin und her, aus der ersten hinein in die dritte Person, aus dem Inneren ihres Helden weit hinauf in die Lüfte, von wo dann ein schonungslos entlarvender Blick auf die Erdenkinder herabgeworfen wird.

Die vibrierende Sprache Moras verleiht den Figuren menschliche Größe

Deutsch ist bei Mora wunderbar wandlungsfähig: Sie schnappt ihre Sprache von der Straße auf, und sie spielt mit verschiedenen Tönen, mit hohen ebenso wie mit trivialen. Ihre halt- und heimatlosen Figuren beginnen zu leben und zu atmen aus dieser vibrierenden Sprache heraus, und sie gibt ihnen dadurch eine menschliche Größe.

Ihr könnt mich mal, ich bedeute euch doch nicht das Geringste, ob ich lebe oder krepiere, ihr wisst doch gar nicht mehr, wer ich bin, wer ich war – aber ebenso heftig wünschte er sich auch, er hätte alles vergessen. (…) Alles vergessen, was einen zurückzieht. Zurück? Wohin?

Das darf durchaus auch als politischer oder moralischer Anspruch an die Literatur gesehen werden. Ihr Darius Kopp nämlich reist zwar aufgrund eines ganz privaten Schicksals durch halb Europa – aber dass dieses Europa in der Krise steckt, bekommen er und wir natürlich mit.

Ein vierter Band steht nicht in Aussicht

Gesellschaftliche Stimmungen sind in Moras Büchern immer untergründig zu spüren. Und wenn Kopp nach Berlin zurückkehrt, als ein gewandelter Mensch, nimmt er auch diese Stadt anders wahr als zuvor: Nämlich nicht mehr von oben, wo er vermeintlich einmal beruflich stand; sondern aus der Warte einer prekären Existenz, die sich den Nomaden und Staatenlosen näher fühlt als jenen, die sich in Berlin Mitte eine Eigentumswohnung leisten können.

Wird Terézia Mora ihren Darius nun nicht vermissen, nachdem sie so viel Zeit mit ihm schreibend verbracht hat? Könnte da nicht doch nochmal ein weiterer Band kommen?

„Im Moment ist es eine Trilogie. Aber ich bin auch sehr froh, dass er nicht tot ist. Ich war sehr, sehr erleichtert. Wobei ich dann immer noch den Updike machen könnte: Da ist ja auch Harry Angstrom schon tot, und es gibt noch einen Teil über ihn. Aber ich denke, mit 50 aufzuhören, mit einem Roman, meine ich, ist ganz nett, weil du dir vorstellen kannst, da ist noch genügend Zeit im Leben dieser Figur, dass er sich tatsächlich noch etwas Vollständiges aufbauen kann, bevor er abtritt. Das heißt, da ist tatsächlich alles noch möglich. Die lachen zwar, wenn sie sagen, wir sind 50, aus uns kann alles noch werden‘. Aber sie lachen nur halbironisch und halb relativ fröhlich, weil tatsächlich: Das Leben muss ja nicht vorbei sein…“

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Ulrich Rüdenauer