Buch der Woche

Norbert Gstrein - Als ich jung war

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Wie Norbert Gstrein in seinem neuen Roman „Als ich jung war“ so elaboriert wie klug die Geschichte eines Missbrauchs erzählt, wie er das Selbstmitleid seines unzuverlässigen Ich-Erzählers behutsam, aber ohne moralischen Relativismus demontiert, wie er damit auch die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens über ein solches „Thema“ definiert, wie er schönste und grausamste Satzschlangen formt, in denen die einfachen Kausalitäten des Lebens hinterfragt werden, das alles macht diesen Roman zu einem beeindruckenden Prosawerk.
Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein zeigt sich auf der Höhe seiner literarischen Kunst.

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Gstrein ist ein eleganter Stilist

Der 1961 in der kleinen Tiroler Ortschaft Mils geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein ist ein eleganter Stilist. Seine Sätze können sich über halbe Seiten erstrecken, und dennoch sind sie klar und präzise.

Gstrein ist ein intellektueller und zugleich sehr sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß, wie er das zuletzt in seinem vielgelobten Roman „Die kommenden Jahre“ getan hat.

Darin geht es um Identitätskrisen und Ehekrisen, aber auch um die Migrations- und Klimamisere, und das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Themenfeldern auszusparen.

In Gstreins neuem Roman werden Ideologien kritisiert

Mit ähnlicher Kunstfertigkeit und ideologiekritischer Raffinesse geht Gstrein im neuen Roman „Als ich jung war“ zu Werke, in dem der Ich-Erzähler Franz auf seine Jugend zurückschaut:

Als ich jung war, glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhanden gekommen sein.

Dass dem jugendlichen Franz nicht nur der katholische Glauben, sondern das Glauben an jedwede Institution fremd wurde, hat maßgeblich mit den familiären Verhältnissen zu tun, in denen der Sohn eines Hotelbesitzers aufwächst.

Das Restaurant des Vaters lockt heiratswillige Paare an

Der Vater führt zwei Betriebe in den Tiroler Alpen, im Winter ein Skihotel, im Sommer ein Restaurant, das zunächst ironisch, dann aber „von allen ernsthaft“ die „Hochzeitsfabrik“ genannt wird, „ohne dass dadurch die Anziehungskraft litt“.

Woche für Woche kommen also die Paare aus den umliegenden Dörfern, bald auch aus fernen Städten, um ihre sich alle ähnelnden Hochzeiten zu feiern, zu denen es bald auch gehört, dass der fünfzehnjährige Franz Fotos von den Festen und Feiernden macht.

Tatsächlich entwickelt der emsige Internatsschüler schon bald eine gewisse Professionalität in der Inszenierung jener Bilder, die den angeblich schönsten Tag im Leben der Brautleute festhalten sollen.

Ehe bedeutet nicht zwingend Lebensglück

Wie wenig die Ehe aber mit echtem Lebensglück zu tun hat, weiß Franz nur zu gut, denn das einzige Paar, das er wirklich kennt und das ihn verstört, sind Mutter und Vater.

Man erfährt nicht sehr viel über die Eltern, man erfährt aber, dass sie nach getaner Arbeit in der Regel in Streit geraten. Der Vater sitzt dann über die Mutter zu Gericht, buchstäblich, und die zwei Söhne liegen im Nebenzimmer und hören sich das an, hören die Selbstmorddrohungen der Mutter.

Die sagt regelmäßig, sie gehe ‚ins Wasser‘. Und das ist ein wesentliches Motiv dieses Romans, zumal sich später eine Braut mutmaßlich das Leben nimmt, in einen Abgrund stürzt. Das ist im Kopf des Erzählers geradezu eine Stellvertretertat für das, was die Mutter zum Glück nie getan hat.“

Als sich das Unglück ereignet, ist Franz längst zu Hause ausgezogen, studiert mal Medizin, dann etwas lustlos Anglistik und Germanistik. Doch weil der Berufsfotograf krank wird, der die Arbeit des Sohnes übernommen hat, wird er vom Vater noch einmal gebeten, übergangsweise doch wieder die Aufnahmen zu machen, und der melancholische Franz ist sogar froh über etwas Abwechslung, selbst wenn er meint, er habe in seinem Leben definitiv "genug Hochzeiten gesehen".

Hochzeitsfotograf Franz gerät unter Mordverdacht

So fotografiert er also die Braut, die bald mit gebrochenem Genick unterhalb eines Felsvorsprungs liegt, und später sucht die Polizei auf diesen Bildern nach Hinweisen auf den Tathergang.

Zwar deutet viel auf einen Suizid hin, aber auch weil die Frau so gar nicht lebensmüde wirkt, als sie in die Kamera schaut, wird Franz verdächtigt, mit ihrem Tod etwas zu tun zu haben.

Außerdem kommt heraus, dass der gar nicht mehr so junge Hochzeitsfotograf wenige Tage zuvor ein junges, ein viel zu junges Mädchen gegen seinen Willen geküsst hat, und zwar die so eigenwillig gekleidete und virtuos Violine spielende Cousine einer anderen Braut.     

Es gibt da eine Theorie in dem Roman, die etwas robust gestaltet ist, etwas allzu robust und die ausgerechnet von einer Nonne vorgetragen wird. Diese Nonne sagt, dass Männer, in ihren Augen sehr viele Männer, wahrscheinlich alle Männer dazu neigen, Frauen zu ‚schubsen‘. Einer steht am Anfang. Dann kommt der nächste und der nächste. Am Ende ist sie so weit ‚geschubst‘, dass sie an einem Abgrund steht, dass es nur einen letzter ‚Schubser‘ braucht oder nicht einmal den.

Die Missbrauchsgeschichte verfolgt den Protagonisten

Auf welche Weise Franz nicht nur das Mädchen, sondern auch die vielleicht depressive Braut geschubst hat oder eben nicht, wird zunächst offen gehalten, denn der Täter sucht das Weite, haut nach Wyoming ab.

Die Missbrauchsgeschichte und die Schuld, die Franz sich bzw. dem lesenden Publikum nur scheibchenweise eingesteht, wird ihn auch in die Vereinigten Staaten verfolgen. In Jackson, einem mondänen Ferienort im Bundesstaat Wyoming, schlägt er sich als Skilehrer durch und lernt einen tschechischen Raketenphysiker und Professor kennen.

Zwischen beiden entwickelt sich eine seltsame und etwas einseitige Freundschaft, die zentral ist für den Verlauf des Romans. Norbert Gstrein spiegelt sehr geschickt die Episoden in den USA an den Figuren und Ereignissen in der österreichischen Heimat des Ich-Erzählers.

Franz sieht sich erneut mit einem Selbstmord konfrontiert

So erscheinen die Vorgänge in Tirol zwar nicht unbedingt in einem anderen Licht, doch das Geschehen in der Ferne wirft erneut die Frage nach den vermeintlich eindeutigen Kausalitäten auf.

Denn wieder wird Franz mit einem Selbstmord konfrontiert: Der befreundete Professor bringt sich um, und auf der Suche nach den Gründen steht der Vorwurf im Raum, der Mann sei pädophil gewesen. War er aber nicht. Seine verdrehten Ansichten, seine Verschwörungstheorien und Projektionen auf den österreichischen Begleiter sind vielmehr einem traumatisierenden Autounfall geschuldet, bei dem in jungen Jahren die Eltern und die Schwester getötet wurden.

Der Erzähler wandelt auf schmalem Grat

Norbert Gstreins schriftstellerische Könnerschaft zeigt sich nun darin, die feinen Unterschiede von Lebenslüge, Gerücht und Schuld klar zu benennen und gleichzeitig vor einfachen Zuschreibungen zu warnen. Der literarische Clou dabei ist, dass ausgerechnet ein unzuverlässiger Erzähler ihm hilft, auf diesem schmalen Erzählgrat zu wandeln.

Die Versuche, Wirklichkeit nicht abzubilden, sondern den Versuch zu unternehmen, Welt zu erzeugen, gerät einem so in der Regel besser. Wenn man einen sehr zuverlässigen Erzähler hat, neigt man dazu, in ein Abbildungsverhältnis zu geraten. Das ist der formale Grund. Es gibt auch andere Gründe, wie ich auf Figuren, auf Menschen schaue. Es gibt eine Stelle im Roman, in der es heißt, ‚weil‘ sei eines der gefährlichsten Wörter überhaupt. Was meint, dass es sehr schwierig ist, wenn man über Personen, Figuren spricht, einen allzu eindeutigen Kausalzusammenhang herzustellen. Man muss dabei nur ein bisschen vorsichtig sein, dass man im dauernden Vernebeln nicht ins moralisch Ungefähre gerät.

Norbert Gstrein ist ein großer Verneblungskünstler. Es wird erst spät deutlich, dass die moralische und - nebenbei bemerkt - über jeden Zweifel erhabene Position des Schriftstellers sich in der literarischen Konstruktion verbirgt.

Der Ich-Erzähler sehnt sich nach Vergebung

„Als ich jung war“ ist eine Art Rechenschaftsbericht, vielleicht sogar ein Bußgang des Ich-Erzählers, der seine Schuld offenlegen, der aber auch Schluss machen will mit dem quälenden Selbstmitleid und der sich letzten Endes nach Vergebung sehnt.

Insofern ist Franz vielleicht der kindliche Glaube an den lieben Gott abhanden gekommen, die Lehren des Katholizismus aber prägen ihn weiterhin.

Es liegt durchaus nahe, den neuen Roman von Norbert Gstrein vor allem als literarischen Kommentar zur „me too“-Debatte zu lesen. Tatsächlich geht der Text viel weiter, versucht er doch die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens über ein solches Thema auszuloten.

Gstreins Satzschlangen sind schön und grausam zugleich

Wie auch in den vergangenen Romanen formt Gstrein schönste und grausamste Satzschlangen, in denen Doppelbödigkeiten und Widersprüche gekonnt eingebaut werden. Gerade weil die mediale Welt von Freund-Feind-Mustern geprägt ist, beschwört Gstrein die Kraft jener Literatur, die sich gegen allzu eilige Schlüsse wehrt.

Der Autor sieht sich einer langen Erzähltradition verpflichtet, und so durchzieht er seinen Roman mit zahlreichen Verweisen auf bekannte und weniger geläufige Werke der Weltliteratur, die von rauschhafter Liebe, von verbotenen Begierden und den Aporien von Jugend und Alter handeln.

Da gibt es Seitenhiebe auf Jane Austens Klassiker oder subtile Bezüge zur erotisch-phantastischen Novelle "Aura" von Carlos Fuentes.

Die Weiten der USA statt Tiroler Berg- und Talwelt

Norbert Gstrein, so erfährt man auf einer weiteren Erzählebene dieses rundum gelungenen Prosawerks, hat sich zudem auf eine Reise in die Bilderwelt der amerikanischen Literaturlandschaften begeben, die er wohl auch in seinen nächsten Büchern fortsetzen wird.

Statt in der Enge der Tiroler Berg- und Talwelt, die vor allem sein Frühwerk prägte, findet Gstrein sein literarisches Glück nun in grotesken Szenen, die eben nur in den Weiten der USA zu erzählen sind. Auf einem Pick-up fährt Franz die Leiche des Professors zu seiner letzten Ruhestätte durch ein Land, in dem Einsamkeit auch für die Freiheit steht, wenn da nicht immer wieder grimmige Highway-Polizisten aufträten.

Nicht zuletzt in diesen so ruhigen wie beängstigenden Roadmovie-Passagen zeigt Norbert Gstrein, dass er derzeit zu den bedeutendsten Schriftstellern deutscher Sprache zählt. Selbst wenn er in „Als ich jung war“ damit kokettiert, er habe diesen Roman im Grunde nur aus dem Englischen übersetzt.

Zeitgenossen Norbert Gstrein, Schriftsteller

Der Tiroler Schriftsteller Norbert Gstrein spricht nicht nur über sein aktuelles vielgelobtes Werk „Als ich jung war“ und worauf es ihm ankommt in der Literatur, sondern auch über eine Kindheit in den Bergen und warum er kein Mathematiker werden wollte.

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Carsten Otte