SWR2 lesenswert Kritik

Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hrg.) – Canceln. Ein notwendiger Streit

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

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Im Kulturbetrieb geht die Angst um. Nicht nur, aber besonders der so genannte "alte weiße Mann" muss sich davor in Acht nehmen, gecancelt zu werden. Was Canceln heißt, welche positiven und negativen Folgen die Debatte im Literaturbetrieb hat – das versucht nun ein Sammelband des Hanser Verlags zu klären.

Hanser Verlag München, 224 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-446-27613-0

Mit dem Stichwort "Cancel Culture" wird häufig beklagt, dass man nicht mehr alles sagen dürfe, dass es eine Sprach- und Meinungspolizei gäbe und einen medialen "Mainstream". Autoren um Jo Lendle, Chef des Hanser-Verlages, haben darüber ein Buch geschrieben, das heute erscheint: "Canceln. Ein notwendiger Streit" – Ulrich Rüdenauer".

Ein Gespenst geht um in der Bücherwelt – das Gespenst der Wokeness. Wachsamkeit gegenüber bislang hingenommenen Diskriminierungen und Praktiken der Ausgrenzung wird lautstark angemahnt. Heiße Debatten haben sich in den letzten Jahren um identitätspolitische Fragen entsponnen. Vor allem in den sozialen Medien und inzwischen auch den Feuilletons toben Kämpfe um die Ächtung überkommener Begrifflichkeiten, um rassistische Spuren in kulturellen und Alltagsdiskursen: Diskutiert wird, ob es etwa richtig sei, den „N-Wort-König“ in Pippi Langstrumpf in einen „Südseekönig“ zu verwandeln oder die von Karl May herbeifantasierte Winnetou-Welt einer jüngeren Generation noch zuzumuten, wenn darin indigene Lebensformen stereotyp dargestellt werden. Es geht um Fragen der angeblich bedrohten Meinungsfreiheit, um Sensitivity Reader, die manche Verlage inzwischen dem Lektorat zur Seite stellen, damit ihre Autorinnen und Autoren nicht aus Versehen irgendwelche Befindlichkeiten verletzen. Problematisiert wird, ob Übersetzung wie bisher mit ästhetischem Gespür und Einfühlungsvermögen zu tun hat, oder der Erfahrungshintergrund und die Herkunft einer Übersetzerin ausschlaggebend sein sollten.

„Cancel Cultur“ ist also das Stichwort, und die Wendung selbst ist schon umstritten – ist sie alleine deskriptiv gemeint oder nicht eher ein willkommener Kampfbegriff derjenigen, die sich einem notwendigen Wandel entgegenstemmen? Ein bisschen Ordnung in die vielen aufgeregten und teils widersprüchlichen Diskussionen der letzten Jahre soll nun ein Sammelband bringen: „Canceln“, herausgegeben von Lektor:innen und dem Verleger des Hanser Verlags, untersucht in kurzen Essays einzelne Cancel-Debatten auf dem literarischen Feld. „Wie unterscheidet sich ‚Canceln‘ von Kritik? Und was geschieht mit Werken und Personen, die gecancelt werden? Verschwinden sie von der Bildfläche? Oder erlangen sie gerade besonderen Ruhm?“ Das sind nur ein paar der in den Aufsätzen aufgegriffenen Themen.

Literaturkritiker Ijoma Mangold entdeckt in der jüngsten Zeit bereits einen Wandel in der Auseinandersetzung: Hätte die „rhetorische Wucht des woken Manichäismus“ in den zehner Jahren noch ein gewisses Einschüchterungspotential entfaltet, müssten inzwischen auch „woke Glaubenssätze“ Widerspruch in Kauf nehmen und begründet werden. Damit sei viel gewonnen, so Mangold. Die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier versucht anhand einiger inkriminierter Novellen Heinrich von Kleists den moralischen Panikdebatten literarische Aneignungsverfahren gegenüberzustellen, die freilich die genaue Lektüre historischer Texte voraussetzen würden. Am Kinderbuchautor Michael Ende, dessen Jim-Knopf-Bücher mit kulturalistischen Klischees arbeiten, zeigt die Schriftstellerin Asal Dardan differenziert, wie unser eigenes inneres Kind sentimental an problematisch gewordenen gesellschaftlichen Entwürfen festhält.

Sollten Texte etwa vom N-Wort gereinigt werden? Bei Kinderbüchern dürfte die Antwort freilich anders ausfallen als bei Texten der Weltliteratur oder philosophischen Denkern: Da sollte es doch, darüber sind sich die Beitragenden einig, mündigen Lesern zugemutet werden können, historische Einordnungen selbstständig vorzunehmen. Überhaupt sind die Kontexte, in denen Aussagen getätigt, Ausgrenzungen oder Auseinandersetzungen stattfinden, wichtig – ob es sich um Immanuel Kant handelt oder den Fall J. K. Rowling, der den Konflikt zwischen feministischer und Transgender-Bewegung illustriert. Oder um die heute undenkbaren Afrikabilder, die der Literaturwissenschaftler Lothar Müller in einem Buch seiner Kindheit findet: „Weißer Mann auf heißen Pfaden“, so der Titel eines Abenteuerberichts aus dem Jahr 1963. Müller macht noch einmal deutlich, dass es einen Unterschied gibt zwischen illegitimen Gebrauchsformen etwa des N-Worts als „hate speech“ und legitimen in kulturellen Formaten und in der Wissenschaft. „Mein Enkel“, schreibt Lothar Müller, „wird ‚Weißer Mann auf heißen Pfaden‘ nicht als Geburtstagsgeschenk erhalten. Ich zitiere das Buch, um es kritisieren zu können.“ Am Ende geht es bei den aktuellen Debatten auch um „die Deutungshoheit über Geschichte und Gegenwart“, wie Konrad Paul Liessmann schreibt. Das sollte man im Hinterkopf behalten. Von daher tut eine Versachlichung des Diskurses gut, und die subtilen, sich keinesfalls auf eine Seite schlagenden Essays im Band „Canceln“ tragen dazu bei. Übrigens ist das Wort Canceln auf dem Cover des Buches durchgestrichen. Canceln nämlich schließt Diskussion über vorhandene Missstände aus.

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Ulrich Rüdenauer