Buchkritik

Alexei Salnikow – Petrow hat Fieber

Stand
AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Ein Land im Griff der Grippe: Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ gleicht einem wirren Traum, der sich in einen Alptraum verwandeln könnte. In grotesken Szenen zeigt sich das Klima im Vorkriegs-Russland der letzten Jahre.

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Machen Sie sich auf eine rasante Fahrt gefasst: Petrow steigt in den Trolleybus, und schon ist er umgeben von Wahnsinnigen. Eine Alte überlässt ihm ihren Platz, weil sie den jungen Petrow für einen Invaliden hält; ein Riesenkerl bringt mit seiner Stimme den Bus zum Vibrieren; ein Typ drückt Petrow gegen die Wand und trägt der nicht mehr jungen Schaffnerin Gedichte vor. In seiner Fantasie erscheint Petrow der Politiker Putin, die auf seine Erschießung wartet. Überhaupt die Petrow’sche Fantasie: Sie steht in ständigem Widerstreit mit der Realität. Und dann noch dieses Fieber:

„Und jetzt, wo er die Grippe hatte und selbst eine gewisse Bewusstseinsveränderung verspürte, stand Petrow also schwankend hinten im Trolleybus und hielt sich an der oberen Stange fest. Im Bus waren nicht viele Leute, aber Sitzplätze gab es keine, und der Fahrer riss bei jedem Halt denselben Witz:
»Vorsicht, Türen schließen nicht.«“

So beginnt Alexei Salnikows im Jekaterinburg der Gegenwart spielender Roman „Petrow hat Fieber“. 2018 erschien er im Original, kurze Zeit später wurde er vom russischen Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov in ein kryptisch-opulentes Kinospektakel verwandelt, das 2021 im Wettbewerb von Cannes seine Premiere feierte. Nun liegt der Roman auch auf Deutsch vor, in der Übersetzung von Bettina Kaibach – ein Rätsel aufgebender Fiebertraum, wahnhaft und grotesk und gar nicht so leicht nachzuerzählen: Nach der zermürbenden Fahrt im Bus trifft Petrow seinen Bekannten Igor, der ihn mit einem gestohlenen Leichenwagen aufsammelt und zu einem obskuren Freund mitnimmt – einem Wissenschaftler namens Wiktor, der aus vom Alkohol glasigen Augen auf die beiden Besucher blickt und sich mit Igor auf politisch-philosophische Scharmützel einlässt, denen wiederum der grippekranke Petrow kaum folgen kann. Wo die Wirklichkeit ins fiebrige und alkoholschwangere Delirium hineinragt, lässt sich in diesem Roman nie so genau sagen: Irgendwie fließt alles ineinander.

„Es brauchte nicht mehr viel, und Petrow wäre drauf und dran gewesen, sich mit Igor anlegen zu wollen – so sehr begann ihn dieser mit allerlei dunklen Anspielungen zu reizen. Doch da drehte Wiktor Michajlowitsch, der plötzlich den Radiorekorder aus dem Wohnzimmer angeschleppt hatte, McCartney bis zum Anschlag auf und stimmte wieder die alte Leier von neuer Staatspolitik und Nachbarhund an. Und Petrow trank die ganze Musik hindurch, bis ihn die Finsternis verschlang, mitsamt den Klängen von »Hope of Deliverance«.“

Schier ein Wunder ist es, dass Petrow nach allerlei Verwicklungen und Streichen, die Igor ihm spielt, doch nach Hause findet. Dort warten seine Frau Petrowa – die sich von ihm hat scheiden lassen, um wieder besser mit ihm zusammensein zu können – und der kleine Sohn. Auch die beiden hat es erwischt: Vor allem Petrow Junior schnieft und glüht; die Eltern testen an dem Jungen tollkühn Tabletten, die seit Jahren abgelaufen sind. Petrow, Automechaniker von Beruf und erfolgloser Comiczeichner aus Leidenschaft, streift derweil selbst durch seine fiebrigen Gedanken, die ihn zurück in die Kindheit führen, während die Bibliothekarin Petrowa mit ihren eigenen Verrücktheiten zu kämpfen hat, nicht zuletzt mit Mordgelüsten, von denen man nie genau weiß, wie weit sie damit gehen würde.

„Noch hoffte Petrowa, mit einer kräftigen Dosis an Medikamenten die Kraft zu haben, die kalte Spirale in ihrem Bauch zu befrieden, die keineswegs verschwunden war. Deshalb sagte sie beim Frühstück zu ihrem Sohn, (…) er solle bei seinem Vater übernachten, und erklärte es damit, dass sie krank sei und niemanden anstecken wolle. Dabei leistete sie sich einen Versprecher, statt »anstecken« sagte sie »abstechen«, was ihr Sohn mit anerkennendem Gelächter quittierte.“

Der „Gripperoman“ mündet im Jolka-Fest, auf dem Väterchen Frost und Schneemädchen durch die Kulisse wanken und allerhand weltlicher Weihnachtszauber aufgefahren wird. Der kleine Petrow will darauf unter keinen Umständen verzichten, also stürzt man sich ins Getümmel. Kaum jemand dort, der nicht hustet, niemand, der sich nicht wie in Trance durch die Szenerie bewegt. Die Grippe hat, so scheint’s, das ganze Land erfasst, und dass so eine Gesellschaft im Fieber ziemlich fragil und unberechenbar ist, das dürfte einleuchten. Alles ist möglich in so einem Grippetraum, noch die alltäglichsten Ereignisse, beispielsweise eine Busfahrt, verwandeln sich in absurde Geisterbahntrips.

Nicht umsonst zeichnet Petrow überdrehte Comics: Die karikaturistische Verzerrung spiegelt dieses postsowjetische Russland, das in einem posttraumatischen Zustand zwischen gestern und morgen verharrt. Oder besser: darin erstarrt ist. Das vorherrschende Gefühl: das der Desillusionierung, und die Symptome: Schlappheit bei gleichzeitig hypernervösem Bewusstsein. Eine gefährliche Mischung. Wir sehen inzwischen, was mit einem grippal geschwächten Volk alles anzustellen ist. Salnikows mit Mitteln der Komik und der Satire arbeitender, mitunter berauscht erzählter Roman ist eine bittere Gegenwarts-Komödie. Aber befreit Auflachen lässt sie einen nicht.

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Ulrich Rüdenauer