Buchkritik

A.L. Kennedy – Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Stand
AUTOR/IN
Eberhard Falcke

Bissig und provokant zeichnet A.L. Kennedy ein Bild der gegenwärtigen britischen Gesellschaft. Egoistisches Machtstreben und soziale Ungleichheit prallen in diesem vibrierenden Zeitroman brutal aufeinander. Das Buch wurde in Großbritannien bislang nicht veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung ist die Weltpremiere – und spannend wie ein Thriller.

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Wer hätte das gedacht? Dass Rumpelstilzchen, dieser hämische Wicht, zum Leitmotiv eines vor Aktualität vibrierenden Zeitromans werden könnte! Das neue Erzählwerk der schottischen Schriftstellerin A.L. Kennedy gleicht einer großen Besichtigungstour durch die britische Gesellschaft der Gegenwart. Schon im Titel klingt der kritische Tenor des Romans an: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“. Und obwohl die Autorin ein hoch differenziertes Gesellschaftsbild entstehen lässt, zeichnet sich doch mit unmissverständlicher Klarheit eine brutale Frontbildung ab: auf der einen Seite die Menschen, die leben, auf der anderen jene, die beherrschen wollen. Zu letzterem Schlag gehören die Rumpelstilzchen, kurz „Stilzchen“ genannt. Ihnen geht es allein um die Macht und die Vorteile, die sie daraus ziehen können.

„Unsere Regierung der Stilzchen hat ihre Meinung geändert. Das ist es, was Stilzchen tun – ständig alles ändern. Die Dinge und die Veränderungen spielen keine Rolle. Was zählt, ist die Demonstration der absoluten Macht. Jedes Mal, wenn die Stilzchen unser Leben durcheinanderwirbeln, kolonisieren sie mehr Köpfe, bringen sie mehr Gefühle aus dem Gleichgewicht.“

Genauso ist es, werden nun viele ausrufen. Aber das ist doch billigstes Politiker-Bashing, dürften andere dagegenhalten. Bleibt die Frage, worauf A.L. Kennedy mit dieser bissigen Karikatur der britischen Klassengesellschaft hinaus will.

Die Heldin heißt Anna Louisa McCormick, sie ist eine Frau in mittleren Jahren, Grundschullehrerin von Beruf. Anna lebt ihr Leben im Banne schnell aufeinanderfolgender Probleme, Krisen und Katastrophen: des Brexit, des Premiers Boris Johnson, der Corona-Pandemie, der Bereicherung der Mächtigen, der Verarmung der Mittelschichten, der Ungerechtigkeiten allenthalben.

Ihr hellwaches Bewusstsein verzeichnet das Auf und Ab ihres Gefühlslebens genauso wie gesellschaftliche und politische Turbulenzen. Momente des Glücks mit ihrem Sohn Paul und ihrem neuen Geliebten wechseln ab mit bitterem Zorn. Das alles schreibt sie als Ich-Erzählerin nieder. Ihr Text ist ein großer Monolog, eine Selbsterforschung, ein Alltagsprotokoll, ein Drama widerstreitender Gefühle und eine Wutrede, mal aufrührerisch, mal verzweifelt.

„Ich bin wütend. Wir neigen nicht zur Besserung und zur Menschlichkeit, wir erleben nur Blasen trügerischen Friedens vor der nächsten Phase widerwärtigen Verhaltens von widerwärtigen Menschen, die damit durchkommen. Nein, ich habe den verlogenen Lügnern nicht geglaubt, die gelogen haben, um mein Land zu stehlen. Ich kann sie erkennen.“

Die Zeit der Romanhandlung ist das Jahr 2020, der Beginn der Corona-Lockdowns, die Endphase des Brexit. Verschärft werden die Erschütterungen der Gegenwart für die Romanheldin durch einen noch immer nachwirkenden Verrat in der Vergangenheit. In den 1980er Jahren gehörte Anna als Studentin einem Straßentheater-Kollektiv an, das Streiks und Demonstrationen mit Performance-Aktionen unterstützte. Damals schlich sich ein polizeilicher V-Mann in die Gruppe ein, mit schlimmen Folgen für die Aktivisten.

Dieser Buster taucht nun plötzlich wieder auf und deponiert vor Annas Haustür Manuskripte, in denen er sich zu seinen Untaten als Polizeispitzel und Auftragskiller bekennt. Dadurch kommt die Spannung eines Thrillers in den Roman. Noch fesselnder jedoch und vor allem sehr erhellend ist die sprachliche Spannung, die durch die Gegenüberstellung dieser beiden Positionen entsteht: Einerseits die von kalter Professionalität und abgründigem Zynismus geprägte Stimme des Undercover-Agenten, der die schmutzige Arbeit im Auftrag der Herrschenden verrichtet. Andererseits der zornig-empfindsame Monolog einer Frau, die sich keine Illusionen macht, trotzdem aber die Hoffnung nicht aufgibt. In den letzten Sätzen des Romans spricht Anna direkt ihre Leserschaft an: 

„Die schönen Dinge und die lustigen Dinge sind wichtig – und kümmern Sie sich um die Dinge, die beides zugleich sind, sie sind noch viel mehr als wichtig. Und ich versuche, so zu leben, wie ich es in einem barmherzigen Land tun würde. Ich hoffe immer noch auf dieses lange und glückliche Leben. Das tun Menschen, sogar einfache Menschen.“

Anna versucht, sich unter dem Druck sozialer Ungerechtigkeiten zu behaupten. Und sie hat das quälende Gefühl, dass die Regierenden, jedenfalls die des Jahres 2020, kein Teil der Lösung sind, sondern eben „Stilzchen“, denen an Glanz und Gold viel liegt und an Menschen wenig.

Anna verkörpert einen sehr humanen, allerdings auch sehr pauschalen Unmut über die herrschenden Verhältnisse. Sie ist eine starke und anrührende, aber zugleich ausgesprochen unbequeme Figur. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sich in Großbritannien noch kein Verlag an die Veröffentlichung dieses Buches herangewagt hat. Darum ist die stilsichere deutsche Übersetzung von Ingo Herzke und Susanne Höbel im Hanser Verlag eine Weltpremiere - und ein Privileg für die deutsche Leserschaft. Denn sie bekommt nun die Gelegenheit, diesen fulminanten, provozierenden Zeitroman als erste aufzuschlagen.

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Eberhard Falcke