SWR2 am Morgen

Die Mädchenkammer

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Deutsche Schriftsteller und Autoren schreiben über ihre kleinen Niederlagen

Der Nachtzug Hamburg-Altona, Paris, Gare du Nord, roch nach staubigen Teppichen, Käsebrötchen und der Rastlosigkeit eines jeden Aufbruchs.

Ich trat ins Abteil der billigen Plätze, sechs Plastikliegen, ergonomisch geformt, um in einem Schwebezustand zwischen Sitzen und Liegen mit nicht allzu großer Geschwindigkeit durch die kühle Spätsommernacht zu rauschen, bis in den hintersten Winkel meiner jugendlichen Selbstüberschätzung davon überzeugt, in Paris eine Arbeit, mehr noch, einen eleganten Franzosen aus betuchter Familie mit Sommerhaus auf Korsika, also den perfekten Abschied von meiner rechtwinkligen deutschen Vorstadtängstlichkeit zu nehmen.

Nur eine Frau unter mir im Abteil, ab Aachen dann ein alter Mann, der nicht schnarchte nur beschwert atmete, die Frau war mittleren Alters, so alt wie ich heute, im Gegensatz zu mir erfahren im Umgang mit dem Leben, sie sagte: "Schätzchen, es gibt nur einen Ort, an dem du die Liebe findest, und das ist mit Sicherheit nicht Paris." Ich hörte ausschließlich das wohlklingende Wort "Sicherheit", ich mochte es schon immer, vielleicht, weil mein Vater Angestellter einer Versicherungsanstalt war, Experte für Risikoeinschätzung, später Experte für "Risikoeinschätzung bei kommenden Naturkatastrophen" – von wem kann man besser lernen, was für einen schönen Klang das Wort Sicherheit hat. Die Frau schlief hinter der Grenze ein, der Mann atmete beschwert, ich schwebte auf der Badewannenliege dahin, im Kopf dieses zarte und doch hartnäckige Geflecht Weltfremdheit, in das die Vorstadt uns verwebt.

Wir erreichten den Gare du Nord in den frühen Morgenstunden, ich stieg aus dem Zug, flog durch die Stadt und lokalisierte ohne Reiseführer, ohne es mir vorgenommen zu haben, das schönste aller Cafés in Saint-Germain-des-Près. Ein Kaffee, zwei Franc, zwei Kaffee, drei Franc, ich trank Kaffee um Kaffee, aber wurde natürlich nicht wach, und machte mich auf zum Büro des Deutsch-Französischen Jugendwerks, um dort eine Anstellung in einem wohlhabenden Pariser Haushalt mit Söhnen in meinem Alter vermittelt zu bekommen, wo ich schon heute Abend in der Mädchenkammer im Zwischenboden über der Küche würde schlafen können.

Eine Dame mit Dutt, Sekretärin des Büros, wollte nur, dass ich eine Karteikarte ausfülle, da ich kein Passfoto zur Hand hatte, skizzierte ich ein Portrait, sie musterte mich wie nur eine Mutter ihre zu früh schwanger gewordene Tochter mustern kann und schrieb auf die Rückseite der Karte: Macht sauberen Eindruck, Sprachkenntnisse verbesserungswürdig.

"Ich verstehe das richtig?", fragte ich zum wiederholten Mal, sie nickte zum wiederholten Mal und sagte: "In einem halben Jahr hören Sie von uns."

Da stand ich vor der Tür des eindrucksvollen Palais in der Rue de l’Amiral Mouchez, wanderte von dort am Cemetière du Montparnasse vorbei, hoch zum Jardin du Luxembourg und alles wieder zurück, um dazwischen von Telefonzellen aus Hotels anzurufen, die ich in einem kleinen Heft gefunden hatte. Vielleicht verstand niemand mein verbesserungswürdiges Französisch oder dass ich nicht als Tänzerin in der hoteleigenen Bar anfangen wollte, es gab nur keine Zimmer, außer denen, in die man stundenweise einkehrt.

Schon drauf und dran, allein in so ein Zimmer zu gehen, kam ich am Quai d’Austerlitz an, die Clochards winkten, sie rochen nicht gut, tranken keinen Fusel, sie seilten ihre Flaschen in die Seine ab und zogen mich auf die Sitzbank, in ihre Mitte, ich nickte und lächelte, ihre vertrauensselige Beredsamkeit beruhigte fast sofort. Und täuschte mich eine weitere Nacht darüber hinweg, dass es wohl mit Sicherheit nicht Paris ist, wo man in der Mädchenkammer über der Küche im schmucken Sohn des Hauses die große Liebe findet.

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SWR