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Martinstag

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Deutsche Schriftsteller und Autoren schreiben über ihre kleinen Niederlagen

Von klein auf bin ich künstlerisch gefördert worden, vor allem das Musikalische hat man fördern wollen, einmal aber auch das Dramatische, das war am Sankt Martinstag. Vergiss nur nicht der Bettler zu sein, hat Mama damals gesagt, immer musst du nur der Bettler sein, und damit ich es auch bestimmt nicht vergesse, haben wir ein Zeichen ausgemacht. Ich stelle mich auf dem Kirchplatz in die erste Reihe, hat Mama gesagt, und wenn ich die Laterne schwenke, heißt das: Ich bin der Bettler und ich friere jetzt sehr.

Als ich mich auf den Kirchplatz kauerte, um auf den heiligen Martin zu warten, habe ich gar nicht oft zu ihr hingeschaut. Ganz eigenständig war ich der Bettler und fand, dass das Dramatische ziemlich leicht war, viel leichter jedenfalls als das Musikalische, das ich nie besonders leiden konnte, vor allem nicht in der Weihnachtszeit. Wobei es beim Musikalischen viel wärmer war, gefroren habe ich nämlich sehr. Alle haben sehr gefroren, während sie auf Sankt Martin gewartet haben. Dass er zu spät kam, hatte mit seinem Pferd zu tun. Im Gegensatz zu mir wollte es sich nicht aufs Dramatische einlassen, jeder konnte sehen, dass es sich sehr im Realistischen befand, vor allem am Schnauben und Wiehern und Aufbäumen war das zu erkennen. Nicht einmal sein Schwert konnte Sankt Martin ziehen, geschweige denn den Mantel teilen, so wild hat das Pferd getan. Bloß nicht anstecken lassen, habe ich gedacht und jetzt doch zu Mama geschaut, und sie hat gelächelt und ihre Laterne geschwenkt. Ich bin der Bettler, habe ich mich erinnert, und ich friere jetzt sehr, was aber kaum geholfen hat, weil das Pferd immer näher kam. Das Gebiss ist auf- und zugeklappt, Schaum ist von den Lefzen getropft, und wegen der schlagenden Hufe sah das Ganze sehr nach Rodeo aus und kaum noch nach Kirchenspiel

Das Realistische ist mir mit Macht in die Glieder gefahren, um ein Haar wäre ich aufgesprungen, aber dann habe ich wieder die schaukelnde Laterne gesehen und an die Sternsinger gedacht. An die Sternsinger mit ihren glockenhellen Stimmen, die so außerordentlich musikalisch waren. So ungestüm das Pferd da auch ausschlagen mochte, ich bin trotzdem sitzen geblieben und habe mich erinnert, wie sehr Mama es bedauerte, dass ich kein Sternsinger war. Dass du aber auch so ganz und gar unmusikalisch bist, hat sie oft gesagt, das ist mir wirklich ein Rätsel. Und ein sehr schwieriges Rätsel war es dazu, weil sie selbst eine hervorragende Sängerin war. Geradezu eine Solostimme hat sie gehabt, wenngleich sie lieber Duette mit mir gesungen hätte, aber das war leider nicht möglich, weil ich immer nur krächzte und die Töne nie traf. Aber im Dramatischen, habe ich gedacht, da kann ich mich fördern lassen und ihr eine Freude machen, und das habe ich ja auch getan, weil ich noch immer der auf dem Kirchplatz kauernde Bettler war.

Dann habe ich nicht mehr weitergedacht. Statt der Laternen sind plötzlich Millionen von Sternen vor mir aufgeblitzt, hell ist es geworden und heiß, danach ganz still und schwarz, und als ich wieder zu mir kam, war das Kopfweh da. Mama hat mir kalte Wickel gegen die Stirn gepresst, von weit her habe ich ihre Stimme gehört, mein kleiner Bettler, hat sie gesagt, mein tapferer, kleiner Bettler, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.

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