SWR2 Buch der Woche vom 12.8.2018

Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert

Stand
AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Eine Geschichte über eine mutmaßliche Vergewaltigung, die in Zeiten der #Metoo-Debatte einen Nerv trifft: Eine Feier, Alkohol ein Kuss. Und dann eine Situation, die zwei Leben entgleisen lässt.

Bettina Wilpert schildert in protokollarischer Form beide Perspektiven: die des vermutlichen Täters und die des mutmaßlichen Opfers - und sie hütet sich davor, Partei zu ergreifen. So gerät der Leser in die Position des richtenden Beobachters. Wo liegt die Wahrheit? Es gehört zur großen Kunst Bettina Wilperts, diese Frage konsequent in der Schwebe zu halten. Ein wichtiges Buch darüber, wie eine Gesellschaft mit sexueller Gewalt umgeht. Und ein starkes Debüt.

Es hätte eine Liebesgeschichte werden können

Fußball-WM in Brasilien: Es liegt etwas in der Luft in diesem Sommer 2014; die Menschen feiern und schauen die Weltmeisterschafts-Spiele in Biergärten und Cafés. Auch im studentischen Milieu Leipzigs ist das so. Anna und Jonas lernen sich kennen. Sie verbringen eine Nacht miteinander. Sie reden viel über Literatur und die Lage in der Ukraine – Anna stammt aus Lwiw und Jonas beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit ukrainischen Autoren.

Es könnte, bei so viel Nähe, durchaus eine Liebe entstehen; es bleibt aber bei einer Liebelei. Jonas hängt noch zu sehr an einer früheren Beziehung; Anna hatte einfach nur Lust auf Sex. So weit, so banal. Wäre da nicht die Party des gemeinsamen Freundes Hannes, bei der sie sich wiedertreffen. Es wird viel getrunken. So viel, dass die Erinnerung an diese Nacht getrübt ist.

Vergewaltigung. Das Wort braucht eine Weile, bis es Anna erreicht. Zwei Monate lang spukt die „Sache“, so bezeichnet Anna die Nacht für sich, in ihrem Kopf herum – bis sie sich entschließt, Anzeige zu erstatten. Dann kommt das ganze ins Rollen: Der Vorwurf steht nun nicht nur zwischen den beiden, er füllt den gesamten Raum, in dem sie sich bewegen.

Alles andere als sterile Betroffenheit

Bettina Wilperts Debütroman „Nichts, was uns passiert“, für den sie ausgiebig recherchiert und mit Polizisten, Psychologen, Betroffenen gesprochen hat, ist nicht nur die penible Dokumentation einer aus dem Ruder gelaufenen Begegnung. Es geht nicht allein um die Schilderung einer Grenzüberschreitung und des nie aufgelösten Zweifels an der Wahrnehmungsfähigkeit beider Protagonisten. Er zeigt auch die drastischen Auswirkungen, die das Ereignis in dem linken, studentischen Milieu ihrer Figuren hervorruft – in einer Szene, in der so etwas eben nicht passiert.

Jonas wird aus Freundeszusammenhängen gerissen, sein Assistenten-Vertrag an der Uni nicht verlängert. Anna leidet unter der Scham, sich in diese Lage der Wehrlosigkeit begeben zu haben, vor Polizisten ihre Geschichte wiederholen zu müssen. Und sie muss sich vor ungebetenen Solidaritätsbekundungen schützen. Etwa wird von eifrigen Studentinnen eine Support Awareness Group zu ihrer Unterstützung gegründet; sie empfindet das als übergriffig. Freunde müssen sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Der soziale Druck auf Opfer und Täter oder besser: auf mutmaßliches Opfer und vermutlichen Täter nimmt zu.

In Form eines Protokolls kommen alle Beteiligten zu Wort

Bettina Wilpert wählt eine protokollarische Form, die es ihr erlaubt, zwischen verschiedenen Perspektiven zu wechseln und dem Leser die Position eines richtenden Beobachters zu überlassen. Es entsteht eine Schwebe. Die protokollierende Instanz bleibt im Off, gibt sich nicht zu erkennen, zeichnet die unterschiedlichen Erinnerungsfragmente und Gefühlszustände der Figuren auf – nicht nur Anna und Jonas können ihre Sicht der Dinge darstellen, auch Freunde kommen zu Wort.

Das Protokoll bleibt dabei in ziemlich rohem Zustand – eine wahrscheinlich sehr bewusste Entscheidung der Autorin, um eine Nähe zum Geschehen über die Sprache herzustellen. Die Kunstlosigkeit des Tons aber, die Ungeschliffenheit des Erzählens, die Inkonsistenz etwa in der Verwendung des Konjunktivs bei der indirekten Rede – das wirkt über eine Textstrecke von 170 Seiten ein wenig ungelenk, ermüdend und eintönig.

Ein verstörender Text - weil man beiden Seiten glauben möchte

Der Reportagen-Charakter des Romans, dieses Hin und Her der Stimmen, hat allerdings den Vorzug, dass es dem Leser bei aller Nüchternheit nicht gelingt, eine klare Haltung gegenüber dem Geschehen einzunehmen: So erweckt Wilperts Roman, wie man es zu Zeiten der #MeToo-Debatte erwarten könnte, keine wohlfeile moralische Empörung. Sondern es entsteht vielmehr ein Bewusstsein für die kaum kenntlichen Zonen, in denen Zuneigung unvermittelt in Abwehr, Zärtlichkeit in Gewalt, Kontrolliertheit in Kontrollverlust übergehen kann.

Es ist ein interessanter, wenngleich verstörender Aspekt dieses Romans, dass man sowohl Anna als auch Jonas jedes Wort glaubt oder glauben möchte. Und deshalb nicht den Stab über einen der beiden brechen kann.

Wilperts Debüt, auch wenn es sprachliche Schwächen hat, gelingt damit das Kunststück, das Literatur von anderen Textformen unterscheidet: Sie entlässt uns nicht aus unserer Ohnmacht. Man ist in diesem Roman am Ende doch nicht Richter, sondern bleibt ein Fragender. Nichts weniger sollte ein Roman von seinen Lesern verlangen.

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Ulrich Rüdenauer