Kommentar

Uwe Tellkamp - Für jeden eine Lieblingsnische

Stand

Von Carsten Otte

Warum der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp in einem Offenen Brief die Diskursunfähigkeit seiner Kritiker beklagt und wortreich erklärt, warum er selbst auch nicht mehr mit Andersdenkenden reden möchte

Die Rose um 15.30 Uhr

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp ist ein leidenschaftlicher Verfechter von Pathos und Paradoxie. Auf die Frage, wann er denn mit dem Schreiben begonnen habe, sagte er mal in einem Zeitungsinterview: „Am 16. Oktober 1985. Um 15:30 Uhr.“ An eben jenem Herbsttag, so erinnerte sich Tellkamp erstaunlicherweise minutengenau, war er in einem Garten und dort fielen Sonnenstrahlen auf eine rote Rose. Und er, von der Muse geküsst, hatte „zwingend“ das Gefühl, er „müsse das jetzt in Verse gießen“.

„Kitsch hoch drei“ nannte Tellkamp selbst sein Erweckungserlebnis, um den Kitschverdacht dann aber gleich wieder mit einem süffisanten „Jaja“ zu unterlaufen. Über diese kleine autobiographische Anekdote kann man sich amüsieren, auch weil sie mit dem großen Gefühl und der allzu sachlichen Zeitangabe spielt, weil sie pathetisch und paradox zugleich ist.

Wollen wir „unser Land und unsere Kultur einfach preisgeben“?

Inzwischen macht Tellkamp weniger als Schriftsteller oder als gewitzter Interviewgeber von sich reden, er äußert sich vor allem zu den Themen Migration und Heimat, deutsche Kultur und deutsche Nation. Mal auf der Bühne im Gespräch mit Dichter Durs Grünbein, jetzt in einem Offenen Brief, der auf der Homepage der – so nennt sich das radikale Medium – „rechtsintellektuellen“ Zeitschrift „Sezession“ veröffentlicht wurde.

Im Kern geht es Tellkamp, so gewohnt pathetisch formuliert er das, um die Frage, „ob wir unser Land und unsere Kultur einfach preisgeben wollen.“ Der Fragesteller gibt bereits die Antwort: „Sie wird aber preisgegeben, wenn sich die Einwanderung in den bisherigen Größenordnungen fortsetzt.“

Wer will mit wem nicht mehr diskutieren – und warum?

Nun könnte man tatsächlich über Sinn und Zweck von Kultur und Landesgrenzen diskutieren, über die moralischen und ästhetischen Maßgaben von Heimat und Rechtsstaat, von sozialen Ungerechtigkeiten, man kann auch darüber debattieren, wie Migration wirkungsvoll verhindert wird, woher die Ängste vor dem Fremden kommen.

Man könnte auch darüber sprechen, wie nah Tellkamps Thesen an der rechtsextremen Rede von der „Umvolkung“ sind. Über all das wird hierzulande auch gesprochen, geschrieben, gestritten. In Zeitungen, im Radio, im Netz, auf Podien, am Stamm- oder Frühstückstisch.

Tellkamp aber möchte nun nicht mehr diskutieren. Vor allem nicht mit den „Edelignoranten in Kirche, Kultur, Medien“, die einen „Gesinnungskorridor“ bilden und die, so behauptet er, wiederum nicht ernsthaft diskutieren wollen. Ja, Tellkamp hat es sich in seiner pathetisch-paradoxen Nische bequem gemacht.

Tellkamps pathetische Paradoxien: berechenbar und überraschend

Wäre er konsequent, müsste er eigentlich seinen neuen Roman – so er denn kommt – nicht wie bislang im Suhrkamp Verlag veröffentlichen, der ganz bestimmt die meisten „Edelignoranten“ der Republik versammelt, sondern im Antaios Verlag, den er trotz oder gerade wegen diverser rechtsnationaler Hetzschriften im Programm wacker verteidigt. Aber das wird Tellkamp wohl nicht tun. Oder doch? Der Witz an Tellkamps pathetischen Paradoxien ist: Sie sind berechenbar und überraschend zugleich.

Tellkamps Lob der sozialen Medien

So meint der aufgebrachte Briefeschreiber, in den sozialen Medien „eine ausgeglichenere Abbildung der Lage und der Meinungen als in den meisten klassischen Medien“ zu finden. Wow. Diese Beurteilung ist ein echter Tellkamp. Pathetisch und paradox. Man braucht keine Studie zu zitieren, um zu begreifen, dass nirgendwo sonst mehr Unsinn behauptet wird als auf Facebook, Twitter oder Instagram.

Aber vielleicht gehören die Fake News und Verzerrungen, die Hassbotschaften, Straftaten und letzten Endes die Egomanie in den Sozialen Medien tatsächlich zur „Abbildung der Lage“. Wenn es in Deutschland allerdings wirklich so aussähe wie im Netz, würde einer wie Tellkamp, ein Meister des Paradoxen, garantiert mit großen Gesten das Weite suchen.

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SWR