Ali Smith - Herbst (Foto: Luchterhand Verlag)

Buch der Woche

Ali Smith - Herbst

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AUTOR/IN
Brigitte Neumann

Vor dreieinhalb Jahren stimmten die Engländer für den Brexit. Seit 2016 ist er politisch in Arbeit, doch auch in der Literatur wird der Austritt reflektiert.

Als einer der ersten Brexit-Romane gilt Ali Smiths Roman „Herbst“, der vom Herbst 2016 erzählt.

Vor dem Hintergrund einer gespaltenen Nation entfaltet die schottische Autorin die Freundschaft zwischen der jungen Elisabeth und dem 100-jährigen Daniel. Eine mehrstimmige Erzählung aus der unmittelbaren Gegenwart.

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Der erste Roman, der sich mit der Brexit-Atmosphäre befasst

Die New York Times hat "Autumn" von Ali Smith, den ersten britischen Roman, der die Atmosphäre rund um den Brexit untersucht, zu einem der zehn besten literarischen Werke des Jahres 2017 erklärt.

Nun ist er unter dem Titel "Herbst" auf Deutsch erschienen und bildet den Auftakt zu einem Romanquartett, das die Autorin nach den Jahreszeiten benennt.

Ali Smith engagiert sich politisch und sozial

Ali Smith hat acht Romane und fünf Bände mit Kurzgeschichten geschrieben. Sie ist politisch vielfältig engagiert, ob es um Rettungsaktionen für öffentliche Büchereien geht, um Flüchtlingsinitiativen oder Unterstützung für junge Schriftsteller.

Autorin Ali Smith (Foto: Pressestelle, Antonio Zazueta Olmos)
Autorin Ali Smith

Die Schottin war schon ein paar Mal auf der Booker-Prize-Shortlist, etwa mit ihrem letzten Buch "Beides sein", hat andere renommierte britische Auszeichnungen erhalten, aber in Deutschland ist sie nahezu unbekannt.

Eine absurde Geschichte eröffnet den Roman

Daniel Gluck ist tot, eine aufgedunsene Wasserleiche am Strand. Aber nein, er rennt in den Wald, näht sich aus Blättern ein grünes Gewand, mit dem er seine Blöße bedeckt, denn am Strand erwarten ihn schöne Mädchen.

Was ist denn das für eine Geschichte? Plötzlich sind die Mädchen fort, und Daniel findet unter vielen angespülten Leichen auch die eines Mannes mit einem toten Baby im Arm.

Wenige Meter entfernt liegen Urlauber unter Sonnenschirmen und Kinder spielen mit den Wellen. Aus einer Bar kommt Musik.

Die Leserschaft wird gefordert

Die Autorin Ali Smith gibt uns gleich zu Beginn ihres Romans "Herbst" Rätsel auf. Was ist hier los? Wir, die Leser, sind gefordert. Und das ist ein gutes Gefühl.

Manchmal, aber nicht immer, liefert sie die Auflösung später nach, wie im Fall von Daniel Gluck. Der Mann ist über 100 Jahre alt, erfahren wir, er liegt im Bett eines britischen Altersheims und fantasiert im Schlaf.

Ein Roman, erzählt in Episoden

Smiths Roman "Herbst" besteht aus Episoden, die zwischen einer und zwanzig Seiten lang sind. Es sind Gedanken zur Zeit, Naturbeobachtungen, Träume und Erinnerungen oder Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit des Lebens der Protagonisten Elisabeth und Daniel, die etwa zwanzig Jahre lang ein ungewöhnliches Freundes-Paar bilden.

Denn Elisabeth ist neun Jahre alt, da fragt ihre Mutter den alten Mann nebenan, ob er nicht ab und zu auf ihre Tochter aufpassen könne. Anschließend fährt sie weg.

Und wenn sie zurückkommt, riecht sie nach Zigaretten und hat nicht eingekauft, stellt die Tochter fest. Mehr erfahren wir nicht. Daniel Gluck, ein früher erfolgreicher Songtexter, erkennt Elisabeths Klugheit, fordert sie heraus, zeigt ihr immer wieder, dass sie allen Grund hat, zuversichtlich zu sein.

Elisabeth ist Erzählstimme der Autorin in den gegenwärtigen Episoden

Die alleinerziehende Mutter bietet Elisabeth keinen Halt, aber Daniel tut es. Als er im Sterben liegt, sitzt Elisabeth an seinem Bett.

Sie konnte verhindern, dass bei Daniel die künstliche Ernährung abgeschaltet wird, als sein Geld aufgebraucht war. Solche Ungeheuerlichkeiten verbucht Elisabeth, die in allen die Gegenwart betreffenden Episoden des Romans die Erzählstimme der Autorin ist, unter Auflösung gesellschaftlicher Strukturen.

"Herbst" entstand unmittelbar nach dem Brexit-Referendum

Genau wie den Brexit-Entscheid der Briten. Ali Smith hat den Roman unmittelbar nach dem Referendum 2016 geschrieben, er wurde in Rekordzeit veröffentlicht und gilt als einer der ersten Brexit-Romane.

Sie schreibt, dass die Wirkung der Entscheidung überall sofort spürbar war. Hier einige Beispiele aus dem Roman: Elisabeth streitet sich in einem Passamt mit dem Schalterbeamten, der bezweifelt, dass sie tatsächlich Britin ist - eine Szene von grotesker Komik.

Geschichten eines Weltreiches im Niedergang

Als sie ihre alte Mutter auf dem Land besucht, registriert Elisabeth, dass die Leute dort ihren Besitz neuerdings mit Stacheldrahtzäunen sichern. Vor einem Ticketschalter schreien Einheimische spanische Touristen an: "Hier ist nicht Europa. Haut ab!"

Ali Smith beschreibt eine Nation im Niedergang, den Herbst eines vormaligen Weltreiches. Ihre Sprache ist dabei wie zum Ausgleich überaus lebendig und leuchtet, als wollte sie uns sagen: Grund zur Freude ist trotzdem jederzeit.

Eine literarische Collage: kraftvoll und verspielt

Die vielfach preisgekrönte, von Kritikern meist mit höchstem Lob bedachte 57-jährige schottische Schriftstellerin zeigt, wie Menschen im Privaten der aggressiven Agonie ihrer Gesellschaft etwas entgegensetzen.

All diese Episoden fließen ineinander, so dass sie beim Lesen allmählich ein literarisches Collagekunstwerk namens "Herbst" bilden. Smiths Stil ist schlagfertig, verspielt und kraftvoll.

Ein Energiespender für kalte Tage, die vor uns liegen

Stil - das ist am Beispiel dieses Romans gut zu erkennen - ist insofern Inhalt, als er die Haltung widerspiegelt, mit der die Autorin der Welt begegnet; eine grundlegende Einstellung also, die ihre Sprache in erster Instanz prägt.

Es ist ihr beschwingt vertraulicher Ton, der anspricht, so dass "Herbst" trotz seiner schweren Themen ein optimistischer Roman ist: Als Energiespender für kalte Tage, die offenbar vor uns liegen, nur wärmstens zu empfehlen.

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Brigitte Neumann