Buch der Woche

Steffen Kopetzky - Propaganda

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AUTOR/IN
Ralph Gerstenberg

Steffen Kopetzky ist mit seinem Roman eine epische Tour de force gelungen.

Anhand der Geschichte des Deutschamerikaners John Glueck, der als Propagandaoffizier in der blutigen Schlacht im Hürtgenwald und später im vietnamesischen Dschungel die Folgen des Krieges am eigenen Leib zu spüren bekommt, zeigt Kopetzky das Ineinandergreifen von Politik und Propaganda, Lügen und Gewalt.

Fast nebenbei gelingt es ihm, das spannungsreiche deutsch-amerikanische Verhältnis in seiner Entwicklung zu reflektieren und seiner großen Liebe zur amerikanischen Literatur Ausdruck zu verleihen. Ein vielschichtiger, überraschender Roman mit einer eindeutigen Botschaft.

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Der Protagonist sieht sich in seinem Leben mit drei Kriegen konfrontiert

Der 1971 geborene Autor Steffen Kopetzky hat bereits in seinem letzten Roman „Risiko“ ein historisches Sujet gewählt. Darin ging es um eine Geheimexpedition an den Hindukusch zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

In seinem neuen Roman "Propaganda" widmet Kopetzky sich nun dem Zweiten Weltkrieg. Genauer: der so genannten Allerseelenschlacht im November 1944 im Hürtgenwald, in dem die US-Army große Verluste erlitt.

John Glueck bekam schon früh Politikverdrossenheit indoktriniert

Der Präsident war also ein Lügner.

Diese Wahrheit über den mächtigsten Mann der Vereinigten Staaten von Amerika erfuhr der Protagonist und Ich-Erzähler in Steffen Kopetzkys Roman "Propaganda" bereits im Kindesalter. John Glueck wuchs in den zwanziger und dreißiger Jahren als Nachfahre deutschstämmiger Einwanderer in New York auf.

Sein Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Glueck neun Jahre alt war, deshalb kümmerte sich der Großvater, ein professioneller Pokerspieler, um den Jungen und brachte diesem nicht nur das Kartenspielen, sondern auch Grundsätzliches über die Lügen der Mächtigen bei.

Gesteuerte Propaganda diente als neues Mittel zur Manipulation

Präsident Wilson hatte einst versprochen, die USA nicht gegen Deutschland in den ersten Weltkrieg zu führen. Deshalb hatte Gluecks Opa, der aus Köln stammte, ihn gewählt.

Keine zwei Jahre später verfolgte er grimmig, wie das ganze Land von staatlich bezahlten Propagandakräften überschwemmt wurde. Man kann es sich heute gar nicht vorstellen, aber bis dahin war psychologisch durchdachte Werbung für politische Inhalte völlig unüblich. Der Erste Weltkrieg war der Kreißsaal der Propaganda.

Im Zweiten Weltkrieg, in dem die Propagandamaschinerie bereits auf Hochtouren lief, landete der junge John Glueck bei Sykewalk, der Propaganda-Abteilung der US-Army. Die Liebe zur deutschen Kultur und sein amerikanischer Freiheitsdrang trieben ihn als Offizier bis an die vorderste Front.

Von einer Literaturreportage verschlug es Glueck direkt ins Kampfgeschehen

Sein Auftrag: Eine große Reportage über Ernest Hemingway für die deutschsprachige Tageszeitung "Sternenbanner" zu verfassen. Doch der Star der amerikanischen Literatur, den Glueck in Frankreich traf, eignete sich nicht zum leuchtenden Vorbild.

Die Badewanne voller Handgranaten und bestens versorgt mit Alkoholika steckte der  bewunderte Autor tief in einer Schreib- und Lebenskrise. Glueck erlebte die Befreiung von Paris, wurde als etablierter Bestandteil der Hemingway-Entourage trinkfest und Pervitin-abhängig, bis es ihn schließlich weg von dem weltberühmten Bohemien in Uniform und hinein in das Kampfgeschehen zog.

Die Allerseelenschlacht wird zum Zentrum der Handlung

Das hatte sich mittlerweile in das Land seiner Vorfahren verlagert – in den Hürtgenwald bei Aachen.

Nach allem, was wir (...) aus dem Hürtgenwald gehört hatten, waren Hemingway und die erfahrenen Kollegen in seiner Umgebung sich sicher, dass dort irgendetwas Unheimliches im Gange war. Der Krieg schien dort eine Dimension von Ressourcenverbrauch und Gefallenenzahlen angenommen zu haben, die an mechanische Schlachthäuser denken ließ. Daher kam später der Name, den Pressevertreter dem Hürtgenwald gegeben hatten: Death-Factory.

Die Allerseelenschlacht im Hürtgenwald im November 1944 bildet das Zentrum von Steffen Kopetzkys Roman. Bei den blutigen Guerillakämpfen in der Nordeifel fanden über 15 000 Soldaten den Tod. Die US-Army hatte sich in unwegsames Gelände begeben, wo die Deutschen ihnen trotz ihrer Unterlegenheit hohe Verluste zufügten.

Auf dem schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion beweist der Autor seine Stärke

Bei den Schilderungen der Kampfhandlungen läuft Kopetzky zu Hochform auf. Wie er hier die historischen Fakten durch Fiktion ergänzt, einen tarantinohaft anmutenden Irokesen auf die Jagd nach Skalps von Wehrmachtsoldaten schickt und das Geschehen mit einer aberwitzigen Spionagestory anreichert, das beweist Chuzpe und Könnerschaft.

Der Autor Steffen Kopetzky (Foto: Pressestelle, Enno Kapitza/Rowohlt Berlin Verlag)
Der Autor Steffen Kopetzky

Mitten im sinnlosen Gemetzel lässt Kopetzky seinen Protagisten John Glueck schließlich doch noch seinen Helden finden, über den er eine Reportage schreiben wird: den deutschen Arzt Günter Stüttgen, der Feuerpausen erwirken kann, um amerikanische und deutsche Verwundete gleichermaßen zu versorgen.

Doch der Redakteur seines Propagandaorgans winkt ab:

„Sie beschreiben das alles so, als hätten sich unsere Soldaten dort, allein gelassen von der Führung, in einer Art Märchen-Horrorwald voller Ungeheuer verlaufen.“
– „Aber genau so war es.“
– „Oh ja, sicher. Und zum Glück gab es dann den deutschen Arzt, der alle gerettet hat.“
– „Den Mann habe ich mir nicht ausgedacht. Er hat Hunderten von Männern das Leben gerettet.“
– „Ich verstehe Sie vollkommen, John. Und mein Lob für Ihren Text ist ehrlich gemeint. Eine sehr spannende, bewegende Reportage. Aber Sie lassen uns echt schlecht aussehen, John. Und es ist jetzt einfach nicht die Zeit für deutsche Helden, glauben Sie mir.

Glueck sieht Parallelen zwischen der Allerseelenschlacht und dem Vietnamkrieg

Steffen Kopetzky lässt seinen Roman von seiner Hauptfigur in der Retrospektive erzählen. John Glueck sitzt im Jahr 1971 im Gefängnis des Staates Missouri, wo er auf seinen Prozess wegen eines Verkehrsdelikts und bewaffneten Widerstands gegen die Staatsgewalt wartet.

Der nunmehr Fünfzigjährige hat sich im Vietnamkrieg durch die dort eingesetzten Entlaubungsmittel eine schwere Hautkrankheit zugezogen. Die Parallelen zwischen der Schlacht im Hürtgenwald und den verlustreichen Kämpfen im vietnamesischen Dschungel sind für ihn offensichtlich.

Und auch die Propagandatricks und Lügen des Präsidenten gehören noch immer zum unverzichtbaren Repertoire amerikanischer Politik. Deshalb hat Glueck sich jener Gruppe angeschlossen, die mit den so genannten Pentagon Papers die wahren Hintergründe des Vietnamkrieges an die Öffentlichkeit bringt.

Die Wahrheit soll endlich ans Licht kommen

Der ehemalige Propagandist betrachtet es nun als seine Pflicht, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. In seiner Rede vor Gericht erinnert er noch einmal an den deutschen Arzt aus dem Hürtgenwald.

Als wir uns kennenlernten, Angehörige zweier feindlicher Armeen, hatte ich für ein Amerika geworben, dass das Land der Freien war. Heute aber führt Amerika einen Krieg, der uns alle nicht nur zu kranken, schäbigen, zwiespältig anzusehenden Leuten, sondern zu wahren Ungeheuern machen wird, wenn wir ihn nicht beenden ...  Ich muss dazu beitragen, das Volk von Amerika zu informieren ..., sonst könnte ich dem deutschen Arzt nicht unter die Augen treten.

Steffen Kopetzky hat mit "Propaganda" einen beeindruckend vielschichtigen Roman geschrieben, in dem er einen weiten Bogen vom Zweiten Weltkrieg zum Vietnamkrieg schlägt, das spannungsreiche deutsch-amerikanische Verhältnis in seiner Entwicklung reflektiert und nicht zuletzt seiner große Liebe zur amerikanischen Literatur Ausdruck verleiht.

Literatur ist das Gegenteil von Propaganda

Charles Bukowski tritt auf und Whit Burnett, der Herausgeber des „Story-Magazin“ und Förderer Jerome D. Salingers. Salinger wiederum war wie Hemingway als GI im Hürtgenwald stationiert. Indem Kopetzky John Glueck, den Erzähler seines Romans, zum Weggefährten dieser Autoren macht, stellt er sich ganz bewusst in eine literarische Tradition.

Literatur, so die unüberhörbare Botschaft, ist das Gegenteil von Propaganda. Zumindest wenn es sich um lesenswerte, gute Literatur handelt. Und darum handelt es sich bei Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ ganz gewiss.

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Ralph Gerstenberg