Buch der Woche

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Katerina Poladjan wurde 1971 in Moskau geboren, der Vater Armenier, der Großvater stammte von der Schwarzmeerküste, wo er als Kind Zeuge des Genozids an seinem Volk wurde. Ende der 70er Jahre kam die Familie nach Deutschland.

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Autorin Katerina Poladjan (Foto: Pressestelle, S. Fischer Verlag / Andreas Labes)
Autorin Katerina Poladjan

Eine Autorin sucht nach ihren Wurzeln

2015 hat Andreas Kebelmann Autorin Katerina Poladjan auf einer Spurensuche in die Heimat ihrer Vorfahren begleitet und daraus ein Feature produziert: "Zwischen Aragaz und Ararat".

Es ist der dritte Roman von Katerina Poladjan – nach „In einer Nacht, woanders“ (2011) und „Vielleicht Marseille“ (2015). 2016 erschien von ihr – zusammen mit Henning Fritsch – der literarische Reisebericht „Hinter Sibirien“.

Die eigene Geschichte dient als Antrieb für die Reise

Wer jemals in einem Archiv ein sehr altes Buch in Händen hielt, kennt das Gefühl von Ehrfurcht: Nicht nur das Geschriebene, der Text, der die Zeiten überdauert hat, gibt uns eine Ahnung von Überlieferung, Tradition, Geschichte. Mehr noch vielleicht die Zeichen, die vormalige Besitzer auf den Seiten hinterlassen haben, die Gebrauchsspuren am Einband, am Körper des Werks.

Die deutsche Buchrestauratorin Helen Mazavian, ihre Vorfahren stammen aus Russland und Armenien, kommt nach Jerewan, um dort im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine alte Familienbibel zu konservieren. Man erfährt zunächst nicht viel über diese Frau, ahnt aber, dass sie nicht allein diese Forschungsreise ins Land führt, sondern auch eine Leerstelle in ihrem Leben, ihrer eigenen Geschichte.

Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm.

Leerstellen fungieren als zentrales Element

"Hier sind Löwen": "Hic sunt dracones" oder "Hic sunt leones", damit wurden in der Antike auf Landkarten unbekannte, unerforschte Weltgegenden gekennzeichnet. Leerstellen eben.

Poladjan hat wie ihre Heldin familiäre Wurzeln in Armenien. Ihr Großvater überlebte das Massaker an seinem Volk. Diese geschichtliche Ebene ist das unterschwellig immer Anwesende in Poladjans neuem Buch: die niemals verheilenden Wunden, die dem Land und den Menschen einen Teil ihrer Identität verleihen.

Und auch in die Bücher haben sie sich, auf fast beiläufige Weise, eingeprägt. Eine Mitarbeiterin des Archivs hilft Helen, die die Sprache ihrer Vorfahren nicht spricht, einen Eintrag zu entziffern.

Als Knarik Gevorgian gegangen war, schlug ich noch einmal die Seite mit der Randnotiz auf. Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht. Mach. Das hatte ich als Kind auch immer gebetet. Mach, mach, mach.

Eine Binnengeschichte macht das Unbegreifliche greifbar

Die Geschichte von Hrant und Anahid wird von Poladjan in den Text eingestreut, aus ganz wenigen Bruchstücken wird sie zusammengefügt oder herbeifantasiert: Hrant ist ein kleiner Junge, der mit seiner Schwester Anahid im Jahr 1915 den Mördern entkommt. All ihre Verwandten werden umgebracht.

Die beiden sind ihrer Kindheit beraubt; sie laufen und laufen, ohne zu wissen, wohin. Sie bleiben am Leben, ohne zu wissen, wozu. Aus den wenigen Bruchstücken, die Helen der Bibel entnimmt, entwickelt sich eine Geschichte, die das Unbegreifliche greifbar machen kann.

So hätte es sein können. So war es vielleicht. Keine Grabstätte, das weiß Helen, hat die Kraft einer Erzählung. Diese Fabel von Hrants und Anahids Flucht stellt eine Verbindung zur armenischen Katastrophe her.

Das Land ihrer Vorfahren übt eine irrationale Anziehung auf Helen aus

Poladjan schiebt sie als andere, zweite Zeitschicht in ihre Gegenwartserzählung. Die hat freilich auch mit der Vergangenheit zu tun: Helen hält zwar Kontakt nach Deutschland, sie telefoniert mit ihrem Freund; es ist da vielleicht eine zu selbstverständliche Vertrautheit zu spüren.

Und doch scheint sie von dem Land ihrer Ahnen auf irrationale Weise eingenommen, aufgesogen, infiziert. Sie beginnt eine Affäre mit Levon, dem Sohn ihrer Vorgesetzten im Institut. Sie verliebt sich. Sie wird der Widersprüche gewahr, die in diesem jungen, löwenhaft unbändigen Mann stecken – der einerseits ein Jazzmusiker ist, aber seine wahre Berufung als Soldat findet, als Kämpfer für die armenischen Streitkräfte.

Mein Sohn sagt, er muss für ein starkes und unabhängiges Armenien kämpfen, aber er kämpft gegen Windmühlen, denn wer wirklich in Bergkarabach kämpft, das sind die Russen, die Türken und die Amerikaner, wir sind nur die Marionetten. Levon hat die Musikakademie beendet, man hatte ihn nach Moskau eingeladen, aber nein, er ist lieber eine Marionette. Die Oligarchen sollte man an die Front stellen.

Die Fremde wird immer mehr vertraut

Immer mehr lässt Helen sich auf das versehrte Land ein; es wird ihr in seiner Fremde vertraut. Ist es zu Anfang noch ihre Mutter, die ihr aufträgt, nach Verwandten zu suchen, so macht sie sich schließlich selbst auf, fährt an verschiedene Orte, bereist die Türkei, betrachtet den Berg Ararat von beiden Seiten der Grenze, um etwas über ihre Herkunft oder vielleicht mehr noch über ihre Zukunft herauszufinden. Ihren Antrieb aber versteht sie selbst nicht recht.

Der Genozid an den Armeniern grundiert diesen Roman. Er ist eine Mahnung, die über allem Handeln und Denken schwebt. Und bestimmte Fragen dringlich macht: Welchen Wert haben Erinnerungen, und wie lassen sie sich teilen? Durch Sprache?

Über Gesten oder kleine Randnotizen, in denen der große Schrecken vielleicht viel intensiver spürbar wird als in einer großen, ungebrochenen Erzählung? Was berichten uns alte Knochen, die nicht einmal eindeutig Menschen zugeordnet werden? Ist ein fürchterliches Ereignis, wird es von einer Seite nur lange genug geleugnet, tatsächlich an der Schwelle zum Vergessenwerden?

Nach der Reise ist Heimat nicht mehr das, was es mal war

Oder ist es vielleicht gerade die Verdrängung, die am Ende den Schrecken noch größer macht? Wie kann man von etwas erzählen, dessen Spuren getilgt werden sollen? Natürlich wird in und durch Poladjans Buch keine dieser Fragen letztgültig beantwortet. Aber sie haben Auswirkungen auf das Erzählen selbst, das eben nicht vorgibt, eine eindeutige Wahrheit zu besitzen.

Für Helen, bei der sich die eigene Haltlosigkeit und Unruhe mit der historischen Last vermengt, bleibt am Ende nur die Heimkehr – wenn vielleicht der Begriff der Heimat durch ihre Reise an Evidenz eingebüßt hat.

»Deine eigene Geschichte ist dir nicht gleichgültig. Ich glaube dir das nicht.«
»Mich interessiert die Geschichte des Buches, an dem ich arbeite. Und es ist doch gleich, ob es die eigene Großmutter war, die gelitten hat, oder eine Unbekannte. Das Leid ist das gleiche.«
»Und warum hast du deine Verwandten gesucht?«
»Das habe ich für meine Mutter getan. Ich war neugierig. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht.«

Katerina Poladjan lässt vieles in der Schwebe. Auch ihre Hauptperson wirkt unfassbar, und man fragt sich lange, ob das für das Buch spricht oder dagegen. Am Ende aber bleiben starke Eindrücke und Bilder, die „Hier sind Löwen“ sehr lesenswert machen.

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer