William Melvin Kelley: Ein anderer Takt (Foto: Hoffmann und Campe Verlag)

Buch der Woche

William Melvin Kelley - Ein anderer Takt

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AUTOR/IN
Eberhard Falcke

An einem Nachmittag im Juni 1957 streut der schwarze Farmer Tucker Caliban Salz auf seine Felder, tötet sein Vieh, brennt sein Haus nieder und macht sich auf den Weg in Richtung Norden.

Ihm folgt die gesamte schwarze Bevölkerung des Ortes. William Melvin Kelleys wiederentdecktes Meisterwerk "Ein anderer Takt" ist eines der scharfsinnigsten Zeugnisse des bis heute andauernden Kampfs der Afroamerikaner für Gleichheit und Gerechtigkeit.

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Afroamerikanische Literatur wird neu entdeckt

Die Wiederentdeckungen und Neuauflagen von Klassikern afroamerikanischer Literatur haben Konjunktur: auf James Baldwin folgten unter anderen Richard Wright und Ralph Ellison.

William Melvin Kelley ist nun der nächste in dieser Reihe, obwohl es mit seinem Klassikerstatus so eine Sache ist. Denn Kelley, der 1937 in New York geboren wurde, hatte es schwer, sich mit seinen fünf Romanen im literarischen Gedächtnis zu etablieren, was zum Teil mit den kühnen und sperrigen Experimenten zu tun hat, die er darin anstellt.

Kelley widmete sich neben dem Schreiben auch der Foto- und Videografie

Darum brachte er seit den siebziger Jahren kein größeres Werk mehr heraus. Stattdessen fotografierte und filmte er und unterrichtete Literatur und Schreiben. Daher war er keineswegs völlig vergessen, als er 2017 starb.

Autor William Melvin Kelley (Foto: Pressestelle, Gail L. Anderson)
Autor William Melvin Kelley

"Ein anderer Takt" war Kelleys Debütroman

Aber einen wichtigen Anstoß zur Wiederentdeckung seiner Bücher gab gewiss ein Aufsatz im New Yorker von 2018 mit dem schmissigen, wenn auch vielleicht etwas zu groß geratenen Titel "Der vergessene Gigant der amerikanischen Literatur".

Dieser Aufsatz steht nun als Vorwort in der ersten deutschen Übersetzung eines Romans von William Melvin Kelley. Es handelt sich um den Debütroman des erst 24-jährigen Autors, der 1962 erschien und große Anerkennung fand.

Eine Massenwanderung verändert das Land

Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung brachte die Menschen mit Märschen, Protesten und Demonstrationszügen buchstäblich auf die Beine. Ein Höhepunkt dieser Mobilisierung war 1963 der Marsch auf Washington, wo Martin Luther King dann seine legendäre „I Have a Dream“-Rede hielt.

Es gab aber noch eine andere Massenwanderung in jenen Jahren und die ereignete sich in einem Bundesstaat des tiefsten Südens. Dort brach eines Tages plötzlich die gesamte schwarze Bevölkerung auf und verließ die Landstriche, in denen ihre Vorfahren einst als Sklaven geschuftet hatten.

Die Motive blieben der weißen Bevölkerung unklar

In allen großen und kleinen Städten bis hin zum letzten Kaff benutzten die Neger alle verfügbaren Transportmittel, einschließlich ihrer eigenen Beine, um sich über die Staatsgrenze nach Mississippi, Alabama oder Tennessee zu begeben.

Alle Afro-Amerikaner, die damals noch allgemein "Neger" genannt wurden, verließen den Bundesstaat. Es war ein ebenso stiller wie unaufhaltsamer Exodus, über dessen Motive die weiße Bevölkerung nur rätseln konnte.

Der Roman spielt sechs Jahre vor Martin Luther Kings großer Rede

Und auch diese Aktion lässt sich zweifellos der Bürgerrechtsbewegung zurechnen, obwohl sie nicht in der Wirklichkeit, sondern in der Literatur stattfand: nämlich in William Melvin Kelleys erstem Roman "Ein anderer Takt", der 1962 erschien.

Die Romanhandlung spielt allerdings einige Jahre früher, 1957. Aber auch zu dieser Zeit hatte der Kampf gegen die Rassentrennung schon mächtig Fahrt aufgenommen.

Trotz dieser Querverbindungen zum aktuellen Geschehen war es dem literarischen Debütanten Kelley auf faszinierende Weise gelungen, einen symbolischen Raum zu schaffen, in dem die Erzählung eine völlig eigene spannungsreiche Bedeutung und Bildhaftigkeit entwickeln konnte.

Tucker Caliban ist die personifizierte 200 Jahre andauernde Unterdrückung

Denn Kelley unternahm nichts Geringeres, als die Geschichte von Versklavung und Diskriminierung in den Figuren einer Kleinstadtgesellschaft der fünfziger Jahre zusammenzufassen.

Zu den Protagonisten des Figurenensembles gehört Tucker Caliban. Und der gebärdet sich überaus sonderbar. Was der weiße Kutscher Stewart als erster entdeckt. Atemlos erstattet er darüber seinen Mitbürgern Bericht.

Als ich hergefahren bin, hab ich gesehen, wie er - ich schwör’s bei Gott - Salz auf sein Feld gestreut hat. Als ich gerufen hab, hat er nicht geantwortet. Und die Schultertasche immer wieder nachgefüllt, von einem großen Haufen vor dem Haus.

Tucker Caliban zerstört sein Farmland, indem er darauf Salz ausstreut wie eine tödliche Saat. Anschließend erschießt er Pferd und Kuh und steckt sein Haus in Brand. Tucker ist eine Personifizierung von 200 Jahren Unterdrückung.

In einem Akt der Revolte bricht die schwarze Bevölkerung aus der Geschichte aus

Sein Ahnherr ist eine quasi-mythologische Figur: ein afrikanischer Häuptling von riesiger Kraft und Gestalt, der einst als Sklave importiert wurde, sich jedoch nie in diese Rolle schickte.

Tucker dagegen ist eine zierliche Gestalt mit dicken Brillengläsern, die bildhaft verkörpert, wie die nach Amerika verschleppten Afrikaner unter dem Joch von Ausbeutung und Rechtlosigkeit immer kleiner geworden sind.

Doch mit seinem Akt der Revolte erhebt sich Tucker nun und bricht zusammen mit der gesamten schwarzen Bevölkerung aus dem überkommenen Lauf der Südstaatengeschichte aus, um woanders neu zu beginnen.

Die weiße Bevölkerung kann sich den Aufbruch nicht erklären

Das ist ein starkes emblematisches Bild. Darüber hinaus hat Kelley noch einen anderen effektvollen Kunstgriff eingesetzt. Er erzählt nämlich von diesem unerhörten Exodus aus der Perspektive der Weißen, die sich die längste Zeit nicht erklären können, was die Schwarzen, die da tagelang zu Busstationen und Bahnhöfen strömen, wohl antreiben mag.

Manche wissen nichts Besseres, als vom "Blut des Afrikaners" zu orakeln, das wohl irgendwie in Wallung geraten sein mag. Andere erklären breitbeinig, dass man die Abwanderer ohnehin nie wollte und jetzt auch nicht mehr brauche.

Bei Familie Willson hat man die Schwarzen längst akzeptiert

Vielschichtiger werden die Sichtweisen, wenn im Reigen der wechselnden Figurenperspektiven die Mitglieder der Familie Willson zu Wort kommen. Die Willsons gehören zur Dynastie einer alten Pflanzerfamilie, ihre Vorfahren waren Generäle, Politiker, Sklavenhalter.

Nach dem Wiedereintritt des Staates in die Union im Jahr 1870 wurde Willson Gouverneur. Wenig später bestimmte er den Ort und entwarf die Anlage der neuen Hauptstadt, die heute seinen Namen trägt.

Inzwischen ist man im Haus der Willsons überaus human, verständnisvoll und freundlich gegenüber den Schwarzen, die wie Tucker auf dem Land der einstigen Plantage tätig sind.

Eine Studienfreundschaft bekräftigt Willsons Engagement für die Bürgerrechte

Bis zum großen Exodus lebte man fast in einem Onkel-Tom-Idyll, in einer milden, modernisierten Symbiose von Herren und Knechten.

Besonders durch die Darstellung des Familienvaters David Willson und seiner Biographie liefert Kelley eine fesselnde Analyse der Möglichkeiten und Grenzen im Verhältnis zwischen wohlmeinenden Weißen und Schwarzen, die ihre Rechte einfordern.

Beim Studium in Harvard in den 1930er Jahren schloss David Willson eine enge Freundschaft mit dem hochbegabten schwarzen Studenten Bennett Bradshaw. Gemeinsam setzten sie sich für die Aufhebung der Rassentrennung ein.

Die Gesellschaft war für die neuen Ideen noch nicht bereit

Aber die Gesellschaft war noch nicht so weit und ihre Wege trennten sich. Der Weiße wurde ein trauriger Liberaler, der hier und da Gutes tat, der Schwarze wurde zum Prediger.

Beide verlieren sie an politischer Bedeutung, als die Schwarzen, für die sie eingetreten sind, selbst das Heft in die Hand nehmen und aus der Nachgeschichte der Sklaverei ausbrechen, um sich eine neue Geschichte als gleichberechtigte Bürger zu erkämpfen.

Auch David Willson fühlt sich endlich frei

Nachdem Tucker Caliban seine Farm zerstört und den durch Unterdrückung kontaminierten Boden der ehemaligen Plantage verlassen hat, notiert David Willson in seinem Tagebuch:

Er hat sich selbst befreit; das war ihm sehr wichtig. Aber irgendwie hat er auch mich befreit.

"Ein anderer Takt" ist ein zeitloses Kunstwerk

Kelley hat den historischen Umschlagpunkt dieser Selbstermächtigung mit dialektischem Gespür und in überzeugenden erzählerischen Bildern festgehalten.

Als sein Roman 1962 erschien, war er zugleich eine treffende Situationsanalyse und dennoch bereits ein zeitloses Kunstwerk.

Darum hat William Melvin Kelleys "Ein anderer Takt" seinen Platz unter den Klassikern der afroamerikanischen Literatur unbedingt verdient.

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Eberhard Falcke