Johann Peter Hebel - Gesammelte Werke (Foto: Wallstein Verlag)

Buch der Woche

Johann Peter Hebel - Gesammelte Werke

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AUTOR/IN
Gerwig Epkes

Es gilt Johann Peter Hebel (1760 – 1826) neu und wieder zu entdecken. Ein Vergnügen, ihm in dieser Neuausgabe seines Werkes zu folgen.

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Die Quellen von Hebels Kalendergeschichten

Sechs Bände „Johann Peter Hebel Sämtliche Werke“ sind ein Schatz. Es ist, als öffne Johann Peter Hebel mit dieser Leseausgabe sein Inneres. Diese Studienausgabe zeigt, was ihn interessierte und wie er zu seinen berühmten „Kalendergeschichten“ fand. Eine Quellenoffenlegung, die enorm ist.

Zwischen 1803 bis 1819 schrieb er die Kalendergeschichten. Und dass das allseits bekannte „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“, das 1811 als „best of“ erschien, Hebels persönliche Auswahl aus den bis dahin in den Jahreskalendern veröffentlichten Texten ist, erfahren wir auch.

Das bekannte „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ floppte zunächst

Hebels Verleger Cotta stieß die Idee zum Buch an. Hebel schrieb die Erzählungen um, indem er aus manchen die lokalen Bezüge entfernte und machte sie so allgemeinverständlicher. Die 2000er Auflage (größer waren Goethes Auflagen bei Cotta auch nicht) verkaufte sich wider Erwarten nicht gut.

Im Gegensatz zu Hebels Kalender, die zwischen einer 24.000er und 50.000er Auflage schwankte. Damit erreichte er Hunderttausend Leser und Hörer. Denn es war damals Tradition, Texte im Kreis mehrerer Personen vorzulesen.

1808 übernahm Hebel die Gesamtredaktion und führte den bis dahin bekannten „Badischen Landeskalender“ unter dem neuen Titel „Der Rheinländische Hausfreund“ weiter.

Hebels Exzerpthefte zeigen seine weitgefächerten Interessen

Hebels Exzerpthefte im zweiten Band der neuesten Werkausgabe sind eine Fundgrube seiner Interessen und zeigen den Verlauf seiner Bildungsaneignung. Wie beispielsweise seine Beschäftigung mit  Geometrie oder sein Umgang mit der lateinischen Sprache.

Der sich zu Ende des Bandes anschließende „Allmanach“, das „Wörterbuch des Belchismus“ und das Gedicht „Ekstase“ mit den hilfreichen Kommentierungen, zeigen nicht nur die Zusammenhänge zwischen den drei Texten, sondern auch gemeinsam mit den in den Exzerptheften vorangestellten Gedankengängen, Schlussfolgerungen, Phantasien und Visionen, woraus sich die dichterischen Umsetzungen Hebels speisten.

Wenn man zum Beispiel weiß, dass damals, 1791, das „Besteigen“ des Belchen im Schwarzwald, nicht nur eine eher ungewohnte körperliche Anstrengung war, sondern in Kombination mit dem Naturerlebnis gleichsam religiöse Gefühle auslöste, dann muten Zeilen aus dem Gedicht „Ekstase“ nicht  mehr schwärmerisch übertrieben an, sondern nachvollziehbar ehrfürchtig: 

Kein Wort der Sprache sagts - 
Kein Bild des Lebens mahlts 
Das fühlt der Sterblichen keiner nach
Fühlt nie das verlorene Schattengefühl 
Der Wonne mir nach


In den Briefbänden erfährt man einiges über Hebels Seelenlagen

Band fünf und sechs präsentieren die Briefe von 1784 bis 1826, Hebels Todesjahr. Briefe anderer zu lesen hat immer etwas Voyeuristisches. Interessanterweise stellen sich hier keine Schamgefühle ein und auch kein schlechtes Gewissen, in Intimes einzudringen, obwohl Hebels Gedankengänge und Seelenlagen offenliegen.

Möglicherweise deshalb, weil es kein Briefwechsel ist, sondern ausschließlich Briefe von Johann Peter Hebel an Adressaten. Möglicherweise auch, weil es keine schwärmerischen Briefe an von ihm verehrte Frauen, wie Gustave Fecht oder an die Schauspielerin Henriette Hendel-Schütz sind. Übrigens: Verheiratet war Johann Peter Hebel nie.

Band vier listet Hebels Bibliothek auf

Für mich ist der interessanteste Band der Werkausgabe der vierte. Nicht nur, weil er die 560 Bücher in Hebels Bibliothek auflistet, die theologische Themen, Erbauungsbücher und Predigten enthielt, sondern auch Bücher über philologische Themen, viele davon auf Griechisch und Latein und Bücher über Geographie, Geschichte und Mythologie, Philosophie, Naturgeschichte, Physik, Chemie, sowie medizinische, als auch mathematische und juristische Schriften, Kunst- und Theaterzeitschriften und nicht zu vergessen das damals übliche Herbarium und die Mineraliensammlung und viele Landkarten.

Über den Raum zwischen Karlsruhe und Basel kam Hebel kaum hinaus

Auf denen machte Hebel seine Reisen. Denn er selbst bewegte sich vorzugsweise im Raum zwischen Basel und Karlsruhe (mit einer Ausnahme in jungen Jahren als Hofmeister eine Schweizreise und später einige Dienstreisen). Sonst bewegte er sich also zwischen Basel und Karlsruhe, wie er es von klein auf gewohnt war. Während der warmen Jahreszeit in Basel, wo er am 10. Mai 1760 geboren wurde und im Winter in Hausen im Wiesental, Heimatdorf seiner Mutter.

Der Tod der Mutter

Als er 13 Jahre war, begleitete er seine erkrankte Mutter auf dem Heimweg von Basel nach Hausen. Während dieses Weges starb seine Mutter zwischen Brombach und Steinen. Hebel starb auf einer Dienstreise am 22.September 1826 in Schwetzingen, wo sich auch sein Grab befindet. Wie sich manchmal Ereignisse gleichen!

Und wohl nicht zufällig erklärt in Hebels wohl bekanntestem Gedicht, „Die Vergänglichkeit - Gespräch auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach, in der Nacht“, der Großvater seinem Enkel Sterben und Vergehen auf genau dem Weg auf dem seine Mutter starb. Das Gedicht erschien 1803 zum ersten Mal. Da war Johann Peter Hebel 43 Jahre.

Den vierten Band halte ich für den interessantesten, weil er eindrücklich Hebels Selbständigkeit im Denken zeigt. 1787 schreibt er, „dass er für möglich hielt, dass die Erde ewig fortdauern werde.“ Es sei „Alles nur Wechsel, neues Leben aus dem Tod, Abgang hier, Zufluß dort“. Jetzt könne er sich „nichts Anderes mehr denken, als dass sie mit der Zeit nicht mehr das Nämliche sei.“

Die Welt entsteht ständig neu

Und … „wenn es wahr ist, was einige Kosmologen gegen den Widerspruch anderer behaupten, daß sie nach und nach immer eine engere Bahn um die Sonne beschreibe, einst wird sie alt und lebenssatt in den mütterlichen Schooß der Sonne zurückkehren, sich wieder auflösen, sich neu und anders zusammensetzen, d.h.Theile zu anderen Kompositionen hergeben, Theile von anderen Destruktionen empfangen; unterdessen wird ein neuer ihr ähnlicher oder unähnlicher Körper auf gleiche Weise entstehen, ihren Platz einnehmen, damit überall, wie im Kleinen, so im Großen, wie im Raum, so in der Zeit Abwechslung und Mannigfaltigkeit herrsche.“

Also auf ein Neues! möchte man rufen - ohne die biblische Schöpfungsgeschichte bemühen zu müssen. Und zu glauben, dass Engel uns auf Händen tragen und Teufel zum Bösen verführen, „das zu hoffen und zu fürchten, wäre vorläufig so thöricht, als sich auf eine kräftigere Arzneipflanze , die im sonnennahen Merkur gedeiht zu verlassen, so hypochondrisch, als von einem giftigen Molch im fernkreisenden Saturn sich bang werden zu lassen. Wir Erdenkinder sind einer des anderen Engel ... einer des andern Teufel, mancher sein eigener.“ Da war Hebel 27 Jahre. Und Jean Paul Sartre lässt in seinem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ sagen: „Die Hölle das sind die anderen“ - allerdings rund 160 Jahre später.

Theodor W. Adorno schätzte Hebels Sendschreiben „Die Juden“

Alle Texte zwischen 1787 und Hebels Todesjahr 1826 in diesem vierten Band, haben die Herausgeber Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Esther Stern in chronologischer Folge herausgegeben. Kaum etwas ist spannender, als hier Johann Peter Hebels intellektuelle Beschäftigungen zu lesen. Welch eine Neugier, welch eine Toleranz gegenüber Andersgläubigen zeigt er. So nannte Theodor W. Adorno Hebels Sendschreiben „Die Juden“, eines „der schönsten Prosastücke zur Verteidigung der Juden, das deutsch geschrieben wurde“.

Die Alemannischen Gedichte waren in Mundart geschrieben, um von gleich zu gleich mit den Lesern zu sprechen. Nicht darum, um von oben herab eine Ordnung aufzudrücken ging es dem Theologen, Lehrer und ersten Prälaten der Badischen Landeskirche und Mitglied der Ersten Kammer der Ständeversammlung. Hebel ging es um Anleitung zur selbständigen Entscheidung.

Tucholsky lobt Hebel „als Reinigungsbad der Seele“

Das verlangt, nicht immer Rechthaben zu wollen, sondern Kompromissfähigkeit zu üben. Darauf gründet das Werk Johann Peter Hebels, was sich in den sechs Bänden trefflich darstellt. Deshalb empfahl Kurt Tucholsky zu Recht „den Hebel...als Reinigungsbad der Seele“.

So wie auch Goethe Hebel schätzte und persönlich kennenlernte, als er in Karlsruhe zu tun hatte. Oder Walter Benjamin, der Hebels Werke als eines „der lautersten Prosawerke der deutschen Literatur“ bezeichnete.

Diese Inhalte zu lesen oder wieder zu lesen oder neu zu entdecken (es sind auch bisher nicht veröffentlichte Texte darunter), dieses Vergnügen sollte nicht versäumt werden. Und ein sinnliches Vergnügen ist die ästhetische Aufmachung der sechs Bände. Verführerisch leuchten das himmelblaue Leinen und der  schneeweiße Schnitt - das lässt den Horizont erahnen und weckt Sehnsucht.

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Gerwig Epkes