Buch der Woche

Andreas Maier: Die Familie

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

„Wir sind die Kinder der Schweigekinder“, und: „Ich schreibe die ganze Zeit Nachkriegsliteratur, ohne es zu merken.“ In seinem neuen Roman „Die Familie“, Teil sieben der großräumigen autobiographischen Selbsterkundung, setzt Andreas Maier noch einmal ganz neu an und kommt zu verstörenden Erkenntnissen über die eigene Familiengeschichte.

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Familienforschung als Selbstanalyse

Als Andreas Maier 2010 den schmalen Roman „Das Zimmer“ vorlegte, wusste er schon, dass darauf noch zehn weitere autobiographische Bände folgen würden. Auch die Titel hatte er bereits festgelegt. In konzentrischen Kreisen erweiterte er von Band zu Band seinen Bewegungsspielraum, vom Zimmer zum Haus zur Straße zum Ort, und in jedem Band gerieten andere Figuren der Maierschen Familienkonstellation in den Blick.

Dabei war Maiers Familienforschung immer auch eine Selbstanalyse, eine genaue Beobachtung, wie die eigene Person in ihrer Umwelt wächst und wird.

Die Kindheit wird erneut Thema

Zuletzt war er den Zwängen der Herkunft einigermaßen entkommen, hatte sich an der Universität in Frankfurt eingeschrieben und ein eigenes Zimmer mit Matratze bezogen. Der neue, siebte Band heißt nun allerdings „Die Familie“. Darin kehrt Maier überraschenderweise noch einmal an den Ausgangspunkt zurück, um die Topographie seiner Kindheitslandschaft neu auszumessen.

Warum er das tut, erschließt sich erst vom Ende aus. Das riesige Grundstück in Friedberg mit seinen Obstbäumen, der alten Mühle, dem ehemaligen Steinmetzbetrieb und dem neu gebauten Elternhaus ist zunächst eine mythische, idyllische Kindheitswelt:

Mein Urgroßvater Karl hatte auf dem Gelände einen großen Obstgarten, hielt dort Hühner und Ziegen, hatte zahlreiche Apfelbäume und ein riesiges Fass, aus dem er den Anwohnern Apfelwein ausschenkte. Die Nachbarn brachten ihre Gläser mit, und dann saßen sie auf Bänken im Schuppen neben dem Fass, aßen Walnüsse und tranken Süßen und im neuen Jahr den fertigen Apfelwein.

Der Autor Andreas Maier (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Picture Alliance)
Der Autor Andreas Maier

Die Besitzverhältnisse prägen die Familienverhältnisse

Doch die Idylle trügt schon damals. Bereits das Kind Andreas kann die juristischen Verhältnisse aufsagen, die eine andere Sprache sprechen. Welche Parzelle gehört der Mutter, welche Onkel Heinz und welche Onkel J.? Warum gehört die Firma der Mutter?

Die Besitzverhältnisse sind wesentlich, weil sie auch die Verhältnisse zwischen den Familienmitgliedern prägen. Aber es dauert lange, bis Andreas und seinem Bruder als Heranwachsenden endlich klar wird, dass Onkel Heinz nicht eines Tages „komisch“ geworden ist, wie die innerfamiliäre Sprachregelung lautet, sondern dass die Mutter ihn beim Erbe stillschweigend übervorteilt hat.

Aus Schweigen werden Lügen, aus Lügen werden Legenden

Wie darüber gesprochen beziehungsweise eben nicht gesprochen wird, wie aus Schweigen Lügen und aus Lügen Legenden werden, darum geht es nun im Roman „Die Familie“. Die entscheidenden Sätze spricht dabei der fünf Jahre älterer Bruder:

Es ist in einer Familie wie unserer völlig egal, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Es ist egal, wie es dir vorkommt, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Eigene Augen sind keine Kategorie.

Was sie als Kinder vom Dachfenster des Elternhauses gesehen haben, war ein Bagger, der eines Abends die Mühle umrundete und mit der Schaufel zum Einsturz brachte. Dieser kalte Abriss des denkmalgeschützten und deshalb unverkäuflichen Gebäudes durfte jedoch nicht als solcher bezeichnet werden, sondern musste als Unfall bei der Dachsanierung erscheinen.

Dem Kind erscheinen die Eltern wie Schablonen ihrer selbst

Eine jahrelange gerichtliche Auseinandersetzung schloss sich an, die Maiers juristisch versierter Vater schließlich gewann. Das, was die Kinder gesehen hatten, durften sie so nie aussprechen, und die Eltern sprachen auch zu Hause in der offiziellen Sprachregelung wie vor Gericht.

Andreas nimmt sie als Avatare wahr, als Schablonen ihrer selbst, die in einer künstlichen Scheinwelt agieren, bis er schließlich sogar an sich selbst zweifelt.

Unschöne Ereignisse in der Familienhistorie werden durch angenehmere Wahrheiten ersetzt

Die eigentliche Pointe des Buches aber führt noch weiter zurück in die Familiengeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und betrifft die Firma des Urgroßvaters, das Grundstück und die Herkunft des Familienvermögens. Auch diese unschöne Geschichte, die mit einstmals jüdischem Besitz zu tun hat, wurde in der Familienhistorie durch angenehmere Wahrheiten ersetzt und also verleugnet.

So wird aus Andreas Maiers „Die Familie“ eine exemplarische deutsche Schweige-Geschichte. Doch Maiers eigentliche, verstörende Entdeckung besteht darin, dass auch seine Generation – 1967 geboren -, die glaubte, in eine kritische Aufarbeitungshaltung hineingewachsen zu sein, mehr elterliches Schweigen, Leerstellen, Mythen und Legenden übernommen hat, als sie ahnte.

Für den Erzähler steht sein ganzes Schreiben plötzlich zur Disposition

Für den Erzähler Andreas Maier hat das fatale Konsequenzen. Nicht nur er als Person, sondern sein ganzes Schreiben steht plötzlich zur Disposition.

Wir sind die Kinder der Schweigekinder. Ich habe immer gewusst, dass nichts erzählt wurde. Das war mir schon klar. Aber ich habe das, was ich sagen soll, für normal gehalten. Man redet eben über diese Zeit nicht. Mein Gott, weißt du, was das für das bedeutet, woran ich die ganze Zeit schreibe? Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt. Ich schreibe die ganze Zeit Nachkriegsliteratur, ohne es zu merken. Entschuldungsliteratur. Ich! Aus meiner Herkunft habe ich ein metaphysisches Konstrukt gemacht. Und es hat so gut funktioniert!

Die innerfamiliären Legenden bemänteln die Lügen

Um zu dieser Erkenntnis vorzudringen, musste Maier noch einmal an den Ausgangspunkt seines Unternehmens zurück. Von hier aus bekommt die eigene Kindheit eine ganz andere, beängstigende Dimension. „Die Familie“ ist keine fiktionale Geschichte. Was Maier schreibt ist ja alles „wahr“. All seine Figuren gibt es „wirklich“ – natürlich wie immer unter dem Vorbehalt, dass das Erzählen jede Wirklichkeit in eine Fiktion verwandelt.

Das erweist sich hier nun aber keineswegs als befreiender, schriftstellerischer Akt, sondern als vertrackte Fortschreibung der Familiengeschichte, in der die innerfamiliären Legenden das Schweigen und die Lüge bemänteln.

Maiers selbstkritische Schlussfolgerung: Er war den familiären Voraussetzungen des eigenen Erzählens gegenüber zu gutgläubig

Dass er selber diesen Zusammenhängen auf den Leim gegangen ist – das ist Maiers selbstkritische Schlussfolgerung. Er erkennt, den familiären Voraussetzungen des eigenen Erzählens gegenüber immer noch zu gutgläubig gewesen zu sein.

Maiers Stärke: Beschreibung und Analyse gehören bei ihm zusammen

Maiers Stärke ist stets das Ineinander von erzählerischen und essayistischen Passagen gewesen. Beschreibung und Analyse gehören bei ihm zusammen. Reflexive Elemente boten jedoch als Distanzierungsmittel zugleich einen Rückzugsraum. Der fällt nun weg, wenn Maier erkennen muss, dass die Familiengeschichte, wie auch er sie kolportierte, auf falschen Voraussetzungen beruhte. Wer sind wir also wirklich? Wo können wir uns positionieren, wenn jede Wahrheit, auf der wir bauen, auf einer Unwahrheit basiert?

Die Voraussetzungen des ganzen autobiographischen Projektes werden erschüttert

Literarisch wirkt der Roman „Die Familie“ in der bloßen Wiedergabe der Gespräche von einst gelegentlich allzu kunstlos, bloß dokumentarisch, und scheint der bisher schwächste Part der „Ortsumgehung“ zu sein.

Vom schockierenden Ende her gelesen hat dieses Buch aber seine Notwendigkeit, indem es die Voraussetzungen des ganzen autobiographischen Projektes erschüttert. Von hier aus müsste man auch die früheren Bände noch einmal mit anderen Augen lesen und darf gespannt sein, wie Maier in den jetzt noch ausstehenden Bänden die Schweigespirale durchbricht.

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Jörg Magenau