Die russischstämmige Schriftstellerin Daria Wilke hat ihren ersten deutschsprachigen Roman nach der Hyazinthe benannt. Allerdings geht es darin nicht um Botanik, sondern um Musik – und zwar um solche, die genauso betörend ist wie der Duft der Blume. Desirée Löffler war neugierig und hat „Die Hyazinthenstimme“ gelesen.
Stimmen wie diese umgeben den jungen Matteo Tag und Nacht – und doch kann er sich ihrer Macht nicht entziehen. Weder, wenn er sie wie in dieser Szene auf seiner Stereoanlage hört, noch, wenn er selber singt. Matteo lebt in der Steiermark, in einem Schloss, das die Zeit vergessen hat, abgeschnitten von der Welt. Wie fast alle Bewohner des Schlosses Settecento ist er Sänger – und wie sie ist er kastriert. Unangefochtener Herrscher über diese Welt ist der enigmatische „Zar“.
Die Welt, die der Zar sich im Schloss erschaffen hat, ist eine Mischung aus Museum und barockem Konservatorium: prächtig, exzentrisch und immerzu erfüllt von Schönklang. Gefangen hält der Zar seine jungen Sänger dort nicht, und er zwingt auch keinen von ihnen zur Kastration. Aber ganz frei entscheiden können die Kinder auch nicht: Kaum treffen sie als zehn- oder elfjährige im Schloss ein, freigekauft von armen, häufig osteuropäischen Eltern, wird ihre Stimme zum einzigen was zählt, zum Alpha und Omega ihres Daseins. Und die Sorge, dass genau die ihnen ohne Operation eines Tages abhanden kommen wird, ist allgegenwärtig.
Freier Wille gegen die Macht der Lebensumstände: Das ist das Spannungsverhältnis, das Daria Wilke in „Die Hyazinthenstimme“ am intensivsten auslotet. Den Barock und die Geschichte der großen Kastraten des 18. Jahrhunderts nutzt die Autorin dabei als Folie: Denn Farinelli und Caffarelli, Senesino oder Porporino hatten anders als die Schlossbewohner keine Wahl: Sie wurden in einer lebensgefährlichen Operation kastriert, zu der sie häufig gezwungen wurden. Und doch haben zumindest die großen Stars freier gelebt: Während sich die Sänger des Zaren im Schloss verstecken müssen und nur ganz selten in geheimen Privatvorstellungen singen dürfen, wurden die großen Kastraten des Barock umjubelt und umschwärmt.
Der Geist des Barock
Immer wieder baut Daria Wilke Details über die Oper des Barock und das Leben der Kastraten in ihren Roman ein. Gleichzeitig spiegeln sich die Vorlieben des 18. Jahrhunderts stilistisch darin: sowohl in den markanten Charakteren und großen Emotionen, als auch sprachlich. Der Geist des Barock mit seinem üppigen, überbordenden Stil findet sich bei Daria Wilke in Wiederholungen, ausufernden Beschreibungen und einfallsreichen Bildern. Dadurch wird die „Die Hyazinthenstimme“ zu einem ganz eigenen Kosmos, der den Leser nach wenigen Sätzen gefangen nimmt. Auf der anderen Seite ist die Tendenz, alles mehrfach zu sagen, gelegentlich ermüdend, und das ein oder andere Bild wirkt etwas gewollt.
Ein Roman, der den Leser aus der Zeit zerrt
Ein etwas strengeres Lektorat hätte Daria Wilkes „Hyazinthenstimme“ also durchaus gut getan, zumal gerade in der ersten Hälfte des Romans gelegentlich der Spannungsbogen etwas durchhängt. Andererseits war Daria Wilkes Lektorin vielleicht deshalb besonders vorsichtig, weil „Die Hyazinthenstimme“ so eigen ist: Ein Roman, der den Leser aus der Zeit zerrt, der zwischen zwei Welten schwebt, ohne dabei die Balance zu verlieren, dem es gelingt, gleichzeitig Abscheu für die Praxis der Kastration und Sehnsucht nach den Stimmen der Kastraten zu wecken. Und vielleicht wäre es auch absurd gewesen, einen Text auseinander zu nehmen, der sich fragt, welchen Preis Perfektion eigentlich haben darf und die Freiheit des Individuums feiert. So mag „Die Hyazinthenstimme“ vielleicht handwerklich kein perfekter Roman sein – dafür ist Daria Wilkes deutschsprachiges Debut originell und faszinierend – und macht ungeheuer Lust auf die Klänge des Barock.
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