In einer hoch individualisierten Gesellschaft der „Ottonormalabweicher“ sollten wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt recht nüchtern betrachten, meint Jürgen Kaube. Leitkultur und Wert können in Konflikt geraten. Arbeitsteilung und Steuern könnten effektivere Bindemittel sein.
Wir sind eine Gesellschaft von Ottonormalabweichern
Häufig und gerade in Krisenzeiten wie jetzt wird der soziale Zusammenhalt beschworen. Keine Präsidentenrede kommt ohne diese Beschwörung aus und ohne die Warnung, den sozialen Zusammenhalt nicht zu gefährden.
Fragt man näher nach, worin er bestehen soll, wird es aber schwierig. So kann der Zusammenhalt in einer modernen Gesellschaft nicht auf gegenseitiger Vertrautheit beruhen. Die meisten Bürger kennen einander gar nicht. Auch Ähnlichkeit ist keine verlässliche Größe. Die Leute unterscheiden sich in fast allen Dimensionen ihrer Lebensführung. Individualismus wird bejaht und gepflegt.
Wir sind eine Gesellschaft von Ottonormalabweichern. Es würde einen überraschen, wenn es in irgendeiner Frage keinen Dissens gäbe. Immer meldet sich jemand, der es anders sieht.
Die berühmte Leitkultur, die alle vereinen soll, ist eine Fiktion
Die berühmte Leitkultur, die alle vereinen soll, stellt sich darum bei näherer Betrachtung als eine Fiktion heraus. Wenn der Zusammenhalt auf einer gemeinsamen Bejahung von Johann Sebastian Bach, Leistungsmoral, Staatstheatern, Wiedervereinigung und Christentum beruhen würde, wäre er tatsächlich prekär. Die Meinungen sind frei, an Gott muss man nicht glauben, Unkenntnis von Goethe schließt so wenig aus der Gemeinschaft aus wie Ganzkörpertattoos oder Analphabetismus.
Bleiben als Notreserve die Werte. Hält das Grundgesetz, in dem man sie festgeschrieben sieht, unsere Gesellschaft zusammen? Vielleicht, aber nicht so, wie man sich das meistens vorstellt. Denn die Werte bilden keine Werteordnung, wie es oft heißt, sondern eine Werteunordnung.
Werte halten eine Gemeinschaft nicht zusammen, sondern munitionieren deren Konflikte
Es gibt mehr als Dutzend von ihnen, aber keine Regeln, wie sie sich im Konfliktfall zueinander verhalten. Dass es ständig Konflikte zwischen den Werten gibt, liegt auf der Hand. Da steht das Verlangen nach Sicherheit dem Bedürfnis nach Freiheit im Weg. Da widerspricht die Orientierung an Gesundheit dem Wunsch nach Konsum. Die Kunstfreiheit kann das Persönlichkeitsrecht verletzen, die Eigentumsfreiheit den sozialen Frieden. Die Freiheiten der einen sind die Risiken der anderen. Wir wollen neue Wohnflächen, dafür müssen aber Bäume gefällt werden.
Die Werte halten also nicht zusammen, sondern munitionieren unsere Konflikte. Sie vereinen uns also nur insofern, als wir fast niemandem, der in einem Konflikt Partei ergreift, absprechen können, sich auf einen Wert zu berufen, den auch wir anerkennen. Niemand ist gegen Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Gesundheit oder Mobilität, aber was das im Einzelfall heißt, ist eine völlig offene Frage.
Arbeitsteilung und Steuerzahlung sind Bindemittel in einer Gesellschaft
Wir müssen die Frage nach dem, was die Gesellschaft zusammenhält also anders stellen. Nüchterner vielleicht. Und wir müssen als Antwort auf sie „Differenz“ zulassen. Denn es ist beispielsweise die Arbeitsteilung, die Gesellschaften zusammenhält. Weil nicht jeder alles macht, sind die einen auf die anderen angewiesen. Die Bäcker auf die Banker, die Richterinnen auf die Landwirte, die Journalisten auf die Briefträger, die Lehrerinnen auf die Müllkutscher und so weiter.
Ein anderes Bindemittel Mechanismus sind die Steuern. Wir zahlen sie, ohne damit Anspruch auf eine bestimmte Gegenleistung zu haben. Jeder hat darum schnell das Gefühl, mehr zu zahlen, als herauszuholen. Aber niemand kann das nachweisen. Das trägt zum sozialen Zusammenhalt bei, weil es für die Bürger und Bürgerinnen nicht möglich ist, ihre Beiträge gegeneinander aufzurechnen.
Das oft beschwore „Wir“ ist das Wir der Steuerzahler und das Wir der Spezialisten, die auf alle anderen angewiesen sind
Das gemeinsame „Wir“, das oft beschworen wird, ist also keine romantische Solidargemeinschaft, sondern ganz einfach und pragmatisch das Wir der Steuerzahler und das Wir der Spezialisten, die auf alle anderen angewiesen sind. Es ist kein heroisches Wir, man kann keine Lieder auf es singen. Das Liedersingen überlassen wir den Tribünen, wenn die Nationalmannschaft spielt. Im Alltag kommen wir ganz gut ohne Gesänge aus.
Zum Autor
Jürgen Kaube ist Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Er ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. „Hegels Welt“ wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis als Sachbuch des Jahres 2021 ausgezeichnet. 2022 erschien gemeinsam mit André Kieserling das aktuelle Buch „Die gespaltene Gesellschaft“.
ARD Themenwoche „Wir gesucht. Was hält uns zusammen?“ Ich, Du, Wir - eine Grammatik der Gemeinschaft
Vom 6.-12. November geht die ARD-Themenwoche auf die Suche nach einem gesellschaftlichen Wir und fragt: „Was hält uns zusammen?“. Anlass für sechs Autorinnen und Autoren in Kurzessays die schöne Fiktion vom „Wir“ kritisch zu befragen. Exklusiv geschrieben für SWR 2 und von den Autorinnen und Autoren selbst eingelesen.
ARD-Themenwoche vom 6. bis 12. November 2022 „Wir gesucht – Was hält uns zusammen?“
Menschen zusammenbringen und Spaltung überwinden – die ARD Themenwoche will einen vielstimmigen Dialog anregen. Gibt es so etwas wie ein „Wir“-Gefühl überhaupt noch, oder driften wir auseinander in Querdenker und Geimpfte, Alt und Jung, Arm und Reich, Trans und Cis, mit und ohne Einwanderungsgeschichte?