Spätestens seit der Tiroler Skiort Ischgl zur Corona-Zentrifuge mit europaweiter Streuung wurde, hat er ein Imageproblem. Mit diesem Buch kommt noch eines dazu. Die Langzeitbeobachtung „Ischgl“ des Tiroler Fotografen Lois Hechenblaikner ist ein Hingucker und ein Statement sondergleichen.
Insider-Blick auf den Après-Ski-Zirkus
Hechenblaikner ist Insider, 1958 als Kind von Tiroler Wirtsleuten geboren, selber leidenschaftlicher Gastronom, und als Fotograf seit Jahrzehnten auf seinem ganz persönlichen Ein-Mann-Feldzug: „Es ist so viel Ignoranz da, dass ich mich eigentlich nur noch mit den Wunden des Tourismus befassen möchte. Das Thema Massentourismus in den Alpen mit all seinen Verwerfungen sollte mein Lebensthema werden."

Hechenblaikner kennt die größeren Zusammenhänge, zum Beispiel die bittere Armut der Bergbauern, auch in Ischgl. Noch vor hundert Jahren mussten die Einheimischen ihre Kinder ins reiche Schwabenland schicken, wo sie als billige Arbeitskräfte auf dem Markt in Ravensburg feilgeboten wurden. Hechenblaikner hat Respekt vor denjenigen, die sich aus diesem Elend herausgearbeitet haben.
Tourismus „mit dem Penis denken“
Das 1.600-Seelen-Dorf Ischgl hatte zuletzt ca. 1,5 Millionen Gäste pro Jahr, 80 Prozent davon im Winter. Maßgeblich beteiligt an dieser Dimension ist der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters Erwin Aloys, Günter, ein Hotelier und Visionär anderer Art. Er hat die totale „Eventisierung “des Wintersports forciert und das feinsinnige Bonmot geprägt, man müsse im Tourismus „mit dem Penis denken“.

Was in Ischgl auch geschieht, wie Hechenblaikners Bilder vielfach zeigen. Da tragen Männergruppen Shirts mit Aufschriften wie "Muschifreunde", "Fotzen Ischgl" oder "Geile Sau" und am Rand der Pisten gehören Dildos und Strapse zum nachmittäglichen Spaß. „So ist Ischgl so etwas wie ein hormoneller Second-Hand-Markt — der ideale Nährboden für Fremdgänger, Blindgänger und Draufgänger", spottet Hechenblaikner. Das wichtigste Gleitmittel dabei ist Alkohol, vom banalen Bier bis zum irren Statussymbol.
Konsum über alles
Was angeboten wird, findet Käufer*innen: Auch die Sechs-Liter-Flasche Dom Perignon Rosé, vergoldet, für 55.000 Euro. „Der Gast ist ein Komplize", stellt Hechenblaikner klar.

Seine Fotos zeigen Müllberge im Schnee, Türme von Getränkekisten, haushohe Halden von Fässern. Am Ende seines Buches hat Hechenblaikner Polizeiberichte aus Ischgl zusammengestellt. Verletzte und sogar Todesfälle sind die Kollateralschäden der Dauerparty. Und so etwas wie die innere Zersetzung ihres Schauplatzes.
Wer bezahlt die Zeche?
Ein paar wenige würden zu Millionären, während viele andere die Rechnung zahlten, so Hechenblaikner. Die Orte selbst würden immer mehr verbrennen und dehydrieren, ist seine Ansicht.
„Das Schlimmste, was einem im Tourismus passieren kann, dass man denjenigen zu hassen anfängt, von dem man lebt, sprich: den Gast.“
Hinter der grellen Enthemmung, die Hechenblaikners Bilder festhalten, lauern tiefe Sinnkrisen. Vielleicht ist jetzt, am Ende der unverhofften Zwangspause, genau der richtige Zeitpunkt, sich von diesem Buch den Spiegel vorhalten zu lassen.