Zeitgenossen

Saba-Nur Cheema: „Sensibilisierung für Rassismus und Antisemitismus hat zugenommen.“

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AUTOR/IN
Doris Maull

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Identitätspolitik und die Folgen

„In einer pluralistischen Gesellschaft kommt es darauf an, die Widersprüche und die Mehrdeutigkeit auszuhalten“, sagt die Politikwissenschaftlerin, Publizistin und Pädagogin Saba-Nur Cheema. Dabei übt sie Kritik an den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Identitätspolitik. Es herrsche gewissermaßen eine „Sakralisierung der Betroffenenperspektive“, so Cheema.

Wenn jemand beispielsweise frage: „Woher kommst Du?“, dann sei das gleich Rassismus. Damit finde eine totale Verkürzung dessen statt, um was es eigentlich gehe. „Wir müssen Rassismus, genau wie andere Formen von Diskriminierung wie Antisemitismus oder Sexismus objektiv erst mal definieren, um dann sagen zu können, ok, das hat was mit Rassismus zu tun und das nicht.“

NSU Morde, Hanau und das politische Klima

Grundsätzlich hätten die NSU Morde und der Anschlag von Hanau das politische Klima in Deutschland eindeutig verändert. „Ich würde sagen, es ist ein anderes Bewusstsein entstanden und seitdem gibt es viel intensivere Auseinandersetzungen mit dem Thema Rassismus auf verschiedenen Ebenen“, beobachtet die Politikwissenschaftlerin.

Hanau habe zu viel größerer Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft und zu diversen politischen Initiativen geführt. Für die migrantische Community sei Hanau eine echte Zäsur gewesen, stellt Cheema fest. „Hanau war für sie so etwas wie ein sehr, sehr krasser Einschnitt in ihre Wahrnehmung über sich selbst und ihre Rolle in dieser Gesellschaft.“

Gegen Feindbilder, für differenzierte Betrachtung

In der Debatte über muslimischen Antisemitismus vertritt Cheema eine eindeutige Position: „Das Benennen von antimuslimischem Rassismus und muslimischem Antisemitismus gehören zusammen“, so ihre feste Überzeugung.

Anstatt diese beiden Phänomene tatsächlich zusammen zu betrachten, gäbe es die Tendenz, bei Reden über Antisemitismus unter migrantischen Jugendlichen zu pauschalisieren. „Das klingt dann immer so als ob muslimische Jugendliche dazu neigen, Antisemiten zu sein“, kritisiert Cheema. Sie wolle gar nicht behaupten, dass Antisemitismus in dieser Gruppe keine Rolle spiele. Dennoch: „Wir dürfen auf keinen Fall wegsehen, aber auch nicht sagen, das ist das Hauptproblem und alles andere vergessen wir.“

Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. 3 Jahre nach Hanau - Was bleibt außer Bitterkeit und Misstrauen?

“Wir sind alle Hanau”, hieß es nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau.

Stimmt das? Oder schaut ein großer Teil der Gesellschaft weg - aus fehlender Betroffenheit, aus Ignoranz oder Rassismus? Und wie könnte im Gegenteil dazu eine solidarischere Gesellschaft aussehen?

Am 19. Februar 2020 riss ein Rassist in Hanau neun junge Menschen aus dem Leben. Seitdem sind drei Jahre vergangen, aber “nichts ist aufgearbeitet worden", beklagt der Rapper Aksu, der in seinem Song “Wo wart ihr?” den rechtsextremen Anschlag verarbeitet hat. Die vielen offenen Fragen und auch das offensichtliche Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden verstärken sein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er hätte sich auch in der Musikszene mehr Anteilnahme gewünscht.

Wegsehen zu können sei ein Privileg, meint der Autor Deniz Utlu. Solidarität heißt für ihn, “sich bewusst dafür zu entscheiden, dieses Privileg nicht zu nutzen”.

Aber selbst wenn die Gesellschaft mehr Mitgefühl, mehr Menschlichkeit entwickeln würde - Armin Kurtović, der Vater eines Opfers, gibt zu bedenken: “Egal was wir machen, nichts bringt mir meinen Sohn zurück”.

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Hosts: Kristine Harthauer und Philine Sauvageot
Showrunner: Giordana Marsilio

Wir empfehlen zur Folge:
Der Song “Wo wart ihr?” von Aksu https://www.youtube.com/watch?v=gAjHPu3jJKc
Die Soli-Lesung am 11.2. in Hanau und digital https://www.betterplace.org/de/fundraising-events/43634-soli-lesung-in-hanau-wir-vergessen-nicht
SWR2-Feature zur “Lücke von Hanau” https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/die-luecke-von-hanau-100.html
Das Sammelband “Anders bleiben” https://www.rowohlt.de/buch/anders-bleiben-9783499010804
Das Sammelband “Eure Heimat ist unser Albtraum” https://www.ullstein.de/werke/eure-heimat-ist-unser-albtraum/hardcover/9783961010363
Eine ARD-Doku zu den Folgen von Hanau https://www.ardmediathek.de/video/dokus-und-reportagen/hanau-eine-nacht-und-ihre-folgen/hr-fernsehen/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xMjY5MzE
Keywords: Hanau, Anschlag, Rassismus, Solidarität, Gesellschaft, Jahrestag

Gespräch Für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung – Lorenz Narku Laing erforscht den Rassismus in Deutschland

Ein rassistisches Vorurteil, das ihn schon immer geärgert hat: Schwarze haben einen tollen Körper und sind sportlich, aber sie sind nicht klug. Prof. Dr. Lorenz Narku Laing ist einer der wenigen schwarzen Professoren in Deutschland. 

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Gespräch Mit scharfer Klinge gegen Rassismus - Degenfechterin Alexandra Ndolo

Alexandra Ndolo ist Sportsoldatin, Weltklasse-Fechterin, Lesebotschafterin - und neuerdings auch Kinderbuchautorin.

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