Kurz-Essay | ARD Themenwoche „Wir gesucht. Was hält uns zusammen?“

Christian Schüle: Ohne „Sorge“ gibt es kein soziales „Wir“

STAND
AUTOR/IN
Christian Schüle

Unsere Gesellschaft ist weniger gespalten als fragmentiert, sagt Christian Schüle. Die Kampzonen des „Wir“ besetzen dabei linke Identitätspolitik und rechte Politik der Identität gleichermaßen. Um ein neues gesellschaftliches Subjekt zu verkörpern, bedarf es dagegen eines neuen sozialethischen Humanismus. In dessen Zentrum: das Prinzip „Sorge“.

Audio herunterladen (4,9 MB | MP3)

Keine Frage, hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind die Nachrichten denkbar schlecht. Krieg, Krise, Crash. Tradierte Gewissheiten: gefallen. Bewährte Traditionen: geschleift. Das große Ganze: zersplittert in Partikularismen, Mikrokosmen, Sektionen, Echokammern, Egokapseln, in Identitäts-Communities und Interessen-Lobbies.

Das „Wir“ kehrt in die Welt der „Ichs“ zurück - als identitätspolitischer Kampfbegriff

Und nun? Kehrt das „Wir“ zurück in die Welt teils vereinsamter, teils erschöpfter, teils narzisstischer „Ichs“. Nicht als religiöse oder politische Metaphysik, nicht als Institution, als Verband oder Gemeinschaft, sondern als radikalmoralischer Spaltpilz in der Kampfzone.

Linke Identitätspolitik wie rechte Politik der Identität wollen, bei gegensätzlichen Absichten, im Prinzip das Gleiche: die Identität ihrer Ideologie-Kollektive, die alles, was anders ist, durch ein Freund-Feind-Schema ausgrenzen.

Der identitätspolitischen Aufwertung als diskriminiert empfundener Minoritäten entspricht die Abwertung der herkömmlichen Tradition von „Normalität“ und „Mehrheit“. Deren Struktur, so lautet das Urteil: repressiv. Die Politik der Identität hingegen setzt ein essenzielles, meist nationales WIR voraus und reduziert die heterogene Gesellschaft geistig auf eine homogene Volks-Gemeinschaft. Beides führt in die Malaise.

In den „superdiversen“ Städten der Zukunft müssen Werte und Normen klug geregelt werden

Dieser Tage ist die Republik ja nicht gespalten, sie ist nahezu fragmentiert. Die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung ist im Jahr 2022 völlig anders als vor zwanzig Jahren. In den, wie die Stadtplaner prophezeien, „superdiversen“ Städten der Zukunft, könnten dann über 70 kulturell konstruierte Geschlechter, über 200 verschiedene Ethnien, zahlreiche Glaubensgemeinschaften und Interessengruppen mit Anspruch auf individuelle Selbstwirksamkeit und Selbstwert zusammenleben.

Für einen stabilen sozialen Frieden müssen künftig unterschiedliche Wertvorstellungen und sittliche Normen einfühlsam austariert und klug geregelt werden.

Eine neue soziale Ethik nach dem Prinzip „Sorge“

Angesichts der offenbar fälligen „Zeitenwende“ könnten – und sollten – die Begriffe „Sorge“, Vorsorge und Fürsorge ins Zentrum eines gemeinsam neu zu formulierenden Gesellschaftsvertrags gestellt werden. Ist das naiv? Keinesfalls.

Seit längerem gibt es aus der Gesellschaft heraus konstruktive Ideen für eine soziale Ethik mit dem Ziel generationen-, geschlechter- und herkunftsübergreifender Solidarität: Kooperativen, Kommunalquartiere, urbane Gemeinschaftsgärten und Mehrgenerationen-WGs sind Beispiele für mikrosoziale Gemeinschaften, die in den vergangenen Jahren vermehrt entstanden sind.

Des Weiteren vermag das Freiwillige Soziale Jahr, das eventuell zu einem verpflichtenden werden könnte, ebenso zu einem intergenerationellen WIR beizutragen wie unentbehrliches ehrenamtliches Engagement in Sport, Kultur und Jugendarbeit. Bürgerschaftliche Bildungsinitiativen wie „Teach first“ schließlich stellen besonders motivierte, fähige und ambitionierte Studenten und Lehrer für soziale Brennpunkte bereit: Frühkindliche Motivation ist der effektivste Motor für lebenslange Motivierbarkeit des Menschen, frühkindliche Bildung die beste sozialpolitische Rendite, die jeden investierten Euro rechtfertigt.

Damit die offene Gesellschaft offen bleibt, muss das Aufstiegs-Versprechen neu formuliert werden

Damit die offene Gesellschaft offen bleibt, sollten WIR als Gesellschaft das gute, alte, hehre, Aufstiegs-Versprechen für jede und jeden neu zu formulieren versuchen. Das neue gesellschaftliche WIR müsste auf einem Regelwerk basieren, dem Boden des Grundgesetzes und einer Leitkultur also, deren leitkulturelle Werthaltungen sich über lange Zeit hinweg als sinnstiftend und vorteilhaft beglaubigt haben: duales Ausbildungssystem, Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie, Generationenvertrag, Gleichstellung, Religionsfreiheit und die Rechtsverbindlichkeit sozialer und politischer Institutionen.

Es ist zu spät, jetzt sofort und stante pede etwas ändern zu können – die Arbeit an einem zukunftsgemäßen WIR wird Zeit brauchen. Wir, die wir jetzt leben, müssen uns über Sorge und Fürsorge verständigen und einen sozialethischen Humanismus aufbauen, damit die kommenden Generationen von klein auf in Respekt, Empathie und Gemeinwohl geschult werden, um – bei allem wünschenswerten Pluralismus – ein neues gesellschaftliches Subjekt verkörpern zu können.

Das HIER wird zum WIR, durch einen gemeinsam erlebten und gemeinschaftlich gestalteten Alltag mündiger Bürger.

Zum Autor

Christian Schüle ist freier Schriftsteller, Essayist und Publizist. Seine Reportagen und Feuilletons, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, erscheinen in GEO, mare, National Geographic und DIE ZEIT. Regelmäßig verfasst er Essays und Feuilletons für den Bayerischen Rundfunk und für Deutschlandfunk Kultur. Seit 2016 hat er einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Unter seinen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ sowie die Essays „Deutschlandvermessung“, „Vom Ich zum Wir“, „Heimat. Ein Phantomschmerz“, das Debattenbuch „In der Kampfzone“ und zuletzt „Vom Glück, unterwegs zu sein – warum wir das Reisen lieben und brauchen“.

ARD Themenwoche „Wir gesucht. Was hält uns zusammen?“ Ich, Du, Wir - eine Grammatik der Gemeinschaft

Vom 6.-12. November geht die ARD-Themenwoche auf die Suche nach einem gesellschaftlichen Wir und fragt: „Was hält uns zusammen?“. Anlass für sechs Autorinnen und Autoren in Kurzessays die schöne Fiktion vom „Wir“ kritisch zu befragen. Exklusiv geschrieben für SWR 2 und von den Autorinnen und Autoren selbst eingelesen.

ARD-Themenwoche vom 6. bis 12. November 2022 „Wir gesucht – Was hält uns zusammen?“

Menschen zusammenbringen und Spaltung überwinden – die ARD Themenwoche will einen vielstimmigen Dialog anregen. Gibt es so etwas wie ein „Wir“-Gefühl überhaupt noch, oder driften wir auseinander in Querdenker und Geimpfte, Alt und Jung, Arm und Reich, Trans und Cis, mit und ohne Einwanderungsgeschichte?

STAND
AUTOR/IN
Christian Schüle