Es geht um Einfluss: auf das Jahr, auf die Welt, auf die Gesellschaft
Unbestreitbar hatte Wolodymyr Selenskyj und der ebenfalls gekürte „Spirit of Ukraine“ im zurückliegenden Jahr weltweit großen Einfluss. Von daher überrascht die Wahl des Time Magazine, ihn und diesen schwer zu fassenden „Geist der Ukraine“ zur „Person of the Year“ 2022 zu ernennen, wohl niemanden.
Von Wladimir Putin über Donald Trump bis Greta Thunberg
Doch es geht der Zeitschrift bei der Benennung laut eigenem Bekunden nicht darum, jemandem eine Ehre zuteil werden zu lassen, sondern alleine um die Frage, wer oder was den größten Einfluss im ausgehenden Jahr hatte – ob nun im guten oder im schlechten Sinn.
Als das Magazin 2021 etwa Elon Musk zur „Person des Jahres“ erklärte, ist der damals reichste Mann der Welt zwar noch kein Twitter-Chef, doch mit seinen Unternehmen SpaceX und Tesla verfolgt er bereits große Zukunftsvisionen.
Umstrittene Persönlichkeiten stehen neben Aktivist*innen
Umstrittene Persönlichkeiten wie Donald Trump, Wladimir Putin, Mark Zuckerberg oder George W. Bush stehen so neben Aktivist*innen, Politiker*innen und Helfenden wie Greta Thunberg, Bono, den Ärzten und Pflegern im Kampf gegen Ebola, Martin Luther King oder Whistleblowerin Coleen Rowley.
Sogar Adolf Hitler bekam den Titel im Jahr 1938, Josef Stalin erhielt ihn sowohl 1939 als auch 1942.
Was zunächst nach einer kühl durchkalkulierten Aneinanderreihung einzelner Persönlichkeiten klingt, enthält aber stets auch eine kritische und kommentierende Einordnung: Nicht nur im entsprechenden Text des Magazins, sondern auch durch die Gestaltung des Covers wird deutlich, ob das Vermächtnis der Person positiv oder negativ zu lesen ist.
Das Cover als kommentierendes Element
Während etwa der ukrainische Präsident Selenskyj in diesem Jahr blau-gelb umrahmt von wehenden ukrainischen Fahnen, Sonnenblumen und Menschen heldenhaft in Szene gesetzt wird und sein Blick traurig, aber zugleich hoffnungsvoll erscheint, zeigt das letztjährige Time-Cover einen streng dreinblickenden, zugeknöpft wirkenden und zugleich überbelichteten Elon Musk vor dunklem Hintergrund.
„Die diesjährige Wahl war die eindeutigste in unserer Erinnerung“, sagte der Time-Chefredakteur Edward Felsenthal zur Begründung der Wahl Selenskyis, ein Jahr zuvor hob das Magazin hingegen die ambivalente Rolle Musks hervor.
Ein Best-Off des Zeitgeschehens und Zeitgeists
Am Beispiel der Träger*innen des Titels können gesellschaftspolitische Debatten und Fragen anschaulich werden – über die Jahre entsteht somit ein Who-is-Who der Veränderung, eine Chronik sozio-kultureller Strömungen wie auch semantischer Verschiebungen.
Wenige Frauen bisher auf dem Titel
Das wird auch anhand der Bezeichnung der Wahl selbst ersichtlich. Der Titel, den das Magazin seit 1927 jährlich vergibt, hieß bis zum Jahr 1999 „Man of the Year“.
Und bis heute sind tatsächlich nur wenige Frauen unter den gewürdigten Persönlichkeiten: neben Greta Thunberg etwa Angela Merkel, Melinda Gates, Elizabeth II. oder Menschen, darunter viele Frauen, die im Zuge der #MeToo-Bewegung ihr Schweigen gebrochen haben. Die amerikanischen Frauen wurden bereits 1975 gewählt, der Titel des Magazins lautete damals entsprechend „Women of the Year“.
Der Computer, die Erde oder Du: Kuriose Würdigungen
Nicht immer wählt die Zeitschrift natürliche oder einzelne Personen aus. Kuriose Beispiele wären etwa der Computer, die bedrohte Erde oder der amerikanische Soldat, der sowohl 1950 als auch 2003 den Titel erhielt.
Der Durchschnittsamerikaner wurde übrigens in der Vergangenheit ebenso gewürdigt wie etwa die Unter-25-Jährigen oder die amerikanischen Wissenschaftler.
Und auch Du bist dabei: Unter dem Titel „You. Yes, You. You control the Information Age. Welcome to your world“ kürte das Magazin im Jahr 2006 jede*n Einzelne*n zur „Person of the Year“, denn schließlich habe im Informationszeitalter jede*r die Möglichkeit, die Welt zu verändern.
Mit der Wahl sollen die vielen anonymen Benutzer*innen gewürdigt werden, die tagtäglich Inhalte generieren, etwa auf Wikipedia, YouTube oder MySpace, so die Zeitschrift in ihrer Begründung.