Obama Time Magazine (Foto: picture-alliance / Reportdienste, © 2008 by Michael Francis McElroy)

„Person of the Year“

Selenskyj, Musk oder einfach nur Du: Wie das Time-Magazin den Zeitgeist beschreibt

Stand
AUTOR/IN
Franziska Kiedaisch
Franziska Kiedaisch, Autorin und Redakteurin, SWR Kultur (Foto: SWR, Franziska Kiedaisch)

Jedes Jahr wählt das amerikanische Magazin Time eine „Person des Jahres“. 2022 heißt sie Wolodymyr Selenskyj. Mit der Wahl würdigt die Zeitschrift den Einfluss einer Person auf die Gesellschaft im vergangenen Jahr – und wird damit zur Chronistin des Zeitgeists.

Es geht um Einfluss: auf das Jahr, auf die Welt, auf die Gesellschaft

Unbestreitbar hatte Wolodymyr Selenskyj und der ebenfalls gekürte „Spirit of Ukraine“ im zurückliegenden Jahr weltweit großen Einfluss. Von daher überrascht die Wahl des Time Magazine, ihn und diesen schwer zu fassenden „Geist der Ukraine“ zur „Person of the Year“ 2022 zu ernennen, wohl niemanden.

TIME's 2022 Person of the Year: Volodymyr Zelensky and the spirit of Ukraine #TIMEPOY https://t.co/06Y5fuc0fG https://t.co/i8ZT3d5GDa

Von Wladimir Putin über Donald Trump bis Greta Thunberg

Doch es geht der Zeitschrift bei der Benennung laut eigenem Bekunden nicht darum, jemandem eine Ehre zuteil werden zu lassen, sondern alleine um die Frage, wer oder was den größten Einfluss im ausgehenden Jahr hatte – ob nun im guten oder im schlechten Sinn.

Als das Magazin 2021 etwa Elon Musk zur „Person des Jahres“ erklärte, ist der damals reichste Mann der Welt zwar noch kein Twitter-Chef, doch mit seinen Unternehmen SpaceX und Tesla verfolgt er bereits große Zukunftsvisionen.

Street Art Putin Time Magazine (Foto: IMAGO, imago images/ZUMA Wire)
2007 wird Putin „Person des Jahres“, im Jahr 2022 sieht ihn ein Street-Art-Künstler in Rom erneut auf dem Titel der Zeitschrift, allerdings mit einem Muttermal in Form der Ukraine – eine Anspielung auf das Muttermal von Michail Gorbatschow.

Umstrittene Persönlichkeiten stehen neben Aktivist*innen

Umstrittene Persönlichkeiten wie Donald Trump, Wladimir Putin, Mark Zuckerberg oder George W. Bush stehen so neben Aktivist*innen, Politiker*innen und Helfenden wie Greta Thunberg, Bono, den Ärzten und Pflegern im Kampf gegen Ebola, Martin Luther King oder Whistleblowerin Coleen Rowley.

Sogar Adolf Hitler bekam den Titel im Jahr 1938, Josef Stalin erhielt ihn sowohl 1939 als auch 1942.

Was zunächst nach einer kühl durchkalkulierten Aneinanderreihung einzelner Persönlichkeiten klingt, enthält aber stets auch eine kritische und kommentierende Einordnung: Nicht nur im entsprechenden Text des Magazins, sondern auch durch die Gestaltung des Covers wird deutlich, ob das Vermächtnis der Person positiv oder negativ zu lesen ist.

Das Cover als kommentierendes Element

Während etwa der ukrainische Präsident Selenskyj in diesem Jahr blau-gelb umrahmt von wehenden ukrainischen Fahnen, Sonnenblumen und Menschen heldenhaft in Szene gesetzt wird und sein Blick traurig, aber zugleich hoffnungsvoll erscheint, zeigt das letztjährige Time-Cover einen streng dreinblickenden, zugeknöpft wirkenden und zugleich überbelichteten Elon Musk vor dunklem Hintergrund.

Elon Musk Person of the Year (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance/ ASSOCIATED PRESS)
Nur wenige Menschen hätten 2021 mehr Einfluss auf das Leben auf der Erde und womöglich auch auf das Leben außerhalb der Erde als er, so die Begründung des Time Magazines. Gleichzeitig bezeichnet ihn die Zeitschrift unter anderem auch als „Clown, Genie, Edgelord, Visionär, Industriellen und Showman“.

„Die diesjährige Wahl war die eindeutigste in unserer Erinnerung“, sagte der Time-Chefredakteur Edward Felsenthal zur Begründung der Wahl Selenskyis, ein Jahr zuvor hob das Magazin hingegen die ambivalente Rolle Musks hervor.

Ein Best-Off des Zeitgeschehens und Zeitgeists

Am Beispiel der Träger*innen des Titels können gesellschaftspolitische Debatten und Fragen anschaulich werden – über die Jahre entsteht somit ein Who-is-Who der Veränderung, eine Chronik sozio-kultureller Strömungen wie auch semantischer Verschiebungen.

Wenige Frauen bisher auf dem Titel

Das wird auch anhand der Bezeichnung der Wahl selbst ersichtlich. Der Titel, den das Magazin seit 1927 jährlich vergibt, hieß bis zum Jahr 1999 „Man of the Year“.

Und bis heute sind tatsächlich nur wenige Frauen unter den gewürdigten Persönlichkeiten: neben Greta Thunberg etwa Angela Merkel, Melinda Gates, Elizabeth II. oder Menschen, darunter viele Frauen, die im Zuge der #MeToo-Bewegung ihr Schweigen gebrochen haben. Die amerikanischen Frauen wurden bereits 1975 gewählt, der Titel des Magazins lautete damals entsprechend „Women of the Year“.

MeToo The Silent Breakers Person of the Year (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance/AP Photo)
2017 werden die „Silence Breakers“ gewählt, also Menschen, die ihr Schweigen im Zuge der MeToo-Bewegung gebrochen haben.

Der Computer, die Erde oder Du: Kuriose Würdigungen

Nicht immer wählt die Zeitschrift natürliche oder einzelne Personen aus. Kuriose Beispiele wären etwa der Computer, die bedrohte Erde oder der amerikanische Soldat, der sowohl 1950 als auch 2003 den Titel erhielt.

Der Durchschnittsamerikaner wurde übrigens in der Vergangenheit ebenso gewürdigt wie etwa die Unter-25-Jährigen oder die amerikanischen Wissenschaftler.

Und auch Du bist dabei: Unter dem Titel „You. Yes, You. You control the Information Age. Welcome to your world“ kürte das Magazin im Jahr 2006 jede*n Einzelne*n zur „Person of the Year“, denn schließlich habe im Informationszeitalter jede*r die Möglichkeit, die Welt zu verändern.

Mit der Wahl sollen die vielen anonymen Benutzer*innen gewürdigt werden, die tagtäglich Inhalte generieren, etwa auf Wikipedia, YouTube oder MySpace, so die Zeitschrift in ihrer Begründung.

Mehr zum Einfluss von Wolodymyr Selenskyj

Politik Russland und die Ukraine – Geschichte eines Krieges

Für Putin ist die Ukraine ein sowjetisches Konstrukt, den Einmarsch begründet er historisch. Der Konflikt um die ukrainische Unabhängigkeit reicht bis ins Mittelalter zurück.

SWR2 Wissen SWR2

Mehr zum Einfluss von Elon Musk

Chaostage bei Twitter Massenentlassungen und freie Fahrt für Donald Trump: Sorge um Twitter

Exodus bei den Mitarbeitenden, Fake-Accounts mit blauen Häkchen, ausbleibende Werbeeinnahmen und nun vielleicht die Rückkehr von Donald Trump: Seit der Übernahme durch Multimilliardär Elon Musk befindet sich Twitter in der Abwärtsspirale. Steht das Unternehmen vor dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit? Die aktuellen Entwicklungen im Überblick.

Mehr zum Einfluss von Greta Thunberg

SWR2 lesenswert Kritik Greta Thunberg – I know this to be true. Über Wahrheit, Mut und die Rettung unseres Planeten

Greta Thunberg gehört heute zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt, meint das Time Magazin. In dem Interviewband "I know this to be true" erklärt sie, warum jetzt dringend gehandelt werden muss.

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Mehr zum Einfluss der #MeToo-Bewegung

Film #Metoo-Drama „She said“ von Maria Schrader – Wie Reporterinnen der New York Times Harvey Weinstein stürzten

2017 deckten die New York Times-Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey auf, dass der Filmproduzent Harvey Weinstein jahrzehntelang seine Macht missbraucht hatte, um Frauen sexuell zu nötigen. Diese pulitzerpreisgekrönte Recherche ist Thema von „She said“, dem ersten Hollywood-Film von Maria Schrader („Unorthodox“, „Ich bin dein Mensch“). Darin erzählt sie von einer Kultur des Wegsehens, den Anfängen von Metoo und der Macht des investigativen Journalismus.

SWR2 Kultur aktuell SWR2