Kultur International

Orhan Pamuk und Omar Souleyman im Visier der türkischen Justiz: Kunst- und Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt

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AUTOR/IN
Samira Straub

Die Lage für Kunst- und Meinungsfreiheit in der Türkei wird immer prekärer: Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk muss sich vor Gericht für einen fiktiven Romancharakter verantworten, der syrische Sänger Omar Souleyman wird wegen angeblicher Kontakte zur kurdischen Arbeiterpartei PKK verhaftet und Aktivist Osman Kavala wartet seit vier Jahren in Haft auf einen fairen Prozess.

Orhan Pamuk (Foto: IMAGO, imago images / Pixsell)
2006 erhielt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk den Nobelpreis für Literatur. Zu seinen bekanntesten Romanen zählt unter anderem „Schnee“, der Pamuk wegen Aussagen zum armenischen Völkermord schon 2005 in den Konflikt mit der türkischen Justiz brachte.

Ein fiktiver Romancharakter als Atatürk-Verspottung?

Pamuks Roman „Nächte der Pest“ spielt im Osmanischen Reich, auf einer fiktiven Insel in der Ägäis. Im Zentrum der Handlung steht ein junger Offizier namens Kamil, der eine Revolution anführt und schließlich zum Präsidenten gewählt wird – nach seinem Tod entsteht ein Kult um ihn. Offensichtliche Anspielungen auf Mustafa Kemal Atatürk, den Vater der Türken, der in der Türkei allgegenwärtig ist.

Besonders deutlich wird das am jährlichen Gedenktag Atatürks, dem 10. November. Hier steht das gesamte Land für fünf Minuten still, während Sirenen lautstark zum Andenken an Atatürk erklingen. Kurz vor besagtem Gedenktag dieses Jahr kam es zur Anklage gegen Pamuk, dem vorgeworfen wird, mit seinem Romanheld Kamil den Republikgründer Atatürk zu verspotten.

Der Einwand des Autors, dass Kamil eine positive und im Volk beliebte Figur sei, führte zunächst zu einer Klageabweisung, wurde aber in der Berufung vom nächsthöheren Gericht nicht anerkannt. PEN America spricht von einem ungeheuerlichen Versuch, kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen.

Bereits 2005 war Pamuk wegen „öffentlichen Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt worden, weil er in einem Interview den Völkermord an den Armeniern indirekt als solchen benannt hatte. Der Prozess wurde zwischenzeitlich eingestellt — der Autor musste jedoch Schadensersatz an mehrere Kläger bezahlen, die sich von seinen Äußerungen beleidigt sahen.

Sänger Omar Souleyman wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verhaftet

Omar Souleyman (Foto: IMAGO, imago/PA Images)
Der 55-jährige gebürtige Syrer Omar Souleyman ist seit Mitte der 1990er Jahre als Hochzeitssänger aktiv. Seine Musik wurde durch den Mix mit elektronischen Elementen weltweit populär — gilt aber eher als unpolitisch.

Am 17. November 2021 wurde der Youtube-Star und Dabke-Sänger Omar Souleyman in der nordkurdischen Stadt Riha verhaftet, in der er seit seiner Flucht aus Syrien vor mehr als zehn Jahren lebt. Nach einer Hausdurchsuchung wurde Souleyman in die Provinzkommandantur der türkischen Gendarmerie in Riha gebracht — Hintergrund für die Verhaftung ist ein Ermittlungsverfahren gegen den Sänger, bei dem ihm vorgeworfen wird, Mitglied einer „Terrororganisation“ zu sein.

Anhaltspunkt der Vorwürfe scheint eine Reise Souleymans in das von der kurdischen Miliz YPG kontrollierte Gebiet im syrisch-türkischen Grenzgebiet zu sein. Die „Volksbefreiungseinheiten“ YPG waren Verbündete der West-Allianz im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), gelten jedoch in der Türkei als Terror-Organisation und Verbündete der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die PKK ist auch in der EU und den USA als Terrororganisation gelistet.

Konkrete Vorwürfe gegen Souleyman, der 2011 beim Glastonbury-Festival auftrat und 2013 bei der Verleihung des Friedensnobelpreises, sind aktuell noch nicht bekannt. In den letzten Wochen wurde in der Türkei wieder verstärkt gegen kurdische Aktivist*innen vorgegangen.

Omar Souleyman — „Warni warni“

Mäzen und Aktivist Kavala weiter ohne Prozess inhaftiert

Osman Kavala (Foto: IMAGO, imago/ZUMA Press)

Osman Kavala, türkischer Unternehmer und Menschenrechtsaktivist, engagiert sich seit Jahren für eine demokratischere Türkei. Seit 2017 sitzt er für eine vermeintliche führende Rolle bei regierungskritischen Protesten in Untersuchungshaft. Nach dem er 2020 freigesprochen wurde, verhaftete man Kavala nur wenige Stunden nach seiner Entlassung erneut: Dieses Mal forderte die türkische Staatsanwaltschaft eine „verschärfte“ lebenslange Haftstrafe und legte eine Anklageschrift vor, in dem ihm unter anderem eine Beteiligung am Putschversuch 2016 und Spionage vorgeworfen wird.

Im Januar 2021 wurde der Freispruch für Kavala von einem Berufungsgericht aufgehoben und die Richter entschieden, dass der Fall erneut geprüft werden muss. Im Oktober desselben Jahres kam es zu einem diplomatischen Vorfall, als die Botschafter der Vereinigten Staaten, von Deutschland, Frankreich, Kanada, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Neuseeland und den Niederlanden in einem gemeinsamen Appell eine sofortige Freilassung Kavalas forderten. Kurz darauf wurden die Botschafter durch Staatspräsident Erdoğan zu unerwünschten Personen in der Türkei erklärt. Daraufhin zogen sie ihre Kritik zurück.

Journalist*innen sind besonders bedroht

Auch der Journalismus ist von den Eingriffen in die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit in der Türkei stark betroffen. Zahlreiche regierungskritische Journalist*innen wurden in den vergangenen Jahren unter fadenscheinigen Umständen verhaftet. Teilweise kam es zu Entlassungen, die jedoch in den meisten Fällen eine erneute Verhaftung nach sich zogen.

Der PEN weist daraufhin, dass in der Türkei noch immer Gerichtsverfahren gegen mehrere Autor*innen sowie über 40 Journalist*innen laufen , die zwischen 2009 und 2010 verhaftet wurden, und erst Jahre später auf Bewährung freigelassen wurden. Ein Ende dieser Prozesse sei nicht abzusehen. Die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan sagt in einem Interview mit der Deutschen Welle zur aktuellen Situation in der Türkei: „Die Presse ist vollkommen unter Kontrolle. Einige Künstler*innen wenden sich stärker der Regierung zu, um dem auszuweichen, andere sind geflohen.“

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Samira Straub