Eine Lehrerin beschäftigt sich während einer Unterrichtsstunde mit zwei Schülerinnen. (Foto: SWR, SWR -)

SWR2 Wissen

Das Ende der Förderschule: Wie geht gute Inklusion?

STAND
ONLINEFASSUNG
Lukas Meyer-Blankenburg
AUTOR/IN
Franziska Hochwald
Franziska Hochwald (Foto: SWR, privat)

Seit 2015 können Eltern in Baden-Württemberg behinderte Kinder auch an allgemeine Schulen schicken. Doch in der Praxis fällt die Inklusion oft schwer. Was brauchen Schulen, damit sie gelingt?

Audio herunterladen (25,2 MB | MP3)

Am 3. Mai 2008 trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft, die Menschen mit Behinderungen die uneingeschränkte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglichen soll. Besonders wichtig dafür ist der Zugang zu Bildung. Deutschland trat der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte Behinderter am 26. März 2009 bei. Dies galt als wichtiger Schritt hin zur Änderung der deutschen Schullandschaft, die die Bundesländer jedoch mit unterschiedlichem Tempo angehen.

Inklusion in Baden-Württemberg

Der Landtag von Baden-Württemberg verabschiedete 2015 eine Änderung des Schulgesetzes zur Inklusion. Seit dem können Eltern von Kindern mit Behinderungen wählen, ob ihr Kind an einer allgemeinen Schule oder an einer Sonderschule lernen soll. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2018 ist die Inklusionsquote an baden-württembergischen Schulen mit knapp fünf Prozent allerdings so gering wie in kaum einem anderen Bundesland.

Das Wort Inklusion steht an einer Schultafel, Schüler betreten den Klassenraum. (Foto: SWR, SWR -)
Das Thema Inklusion macht auch in Baden-Württemberg Schule.

In inklusiven Klassen fehlt das Personal

Viele Eltern von behinderten Kindern sind nicht überzeugt davon, wie Inklusion derzeit umgesetzt wird. Zwar hat mittlerweile jedes Kind ein Recht darauf, inklusiv beschult zu werden. Doch es ist längst nicht garantiert, dass einem behinderten Kind täglich und über die gesamte Unterrichtszeit ein Sonderpädagoge oder auch eine Betreuungsperson zur Seite steht. Den Schulen fehlen oft zusätzliche Mittel und qualifiziertes Personal.

Inklusion (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Aus Mangel an qualifiziertem Personal können Kinder mit Behinderung nicht dauerhaft von einem Sonderpädagogen betreut werden.

Kosten für Inklusion sind hoch

Die Ausgaben für das baden-württembergische System, das nach wie vor eigene Sonderschulen als auch Sonderpädagogen in Regelschulen vorsieht, sind bereits jetzt immens. Der Bundesrechnungshof hat für Niedersachsen, wo ein ähnliches System in Kraft ist, errechnet: Wenn alle derzeit noch existierenden Sonderschulen aufgelöst würden, könnte man sämtliche Klassen aller Schulformen zusätzlich mit knapp sechs Stunden Förderunterricht ausstatten.

Sechs Stunden mehr Förderunterricht wären eine immense Entlastung für die Lehrer der Regelschulen und würde die Betreuung behinderter Kinder sehr erleichtern. Bislang jedoch sind das nur Rechenspiele, die Praxis sieht anders aus.

Weg vom Frontalunterricht

Frontalunterricht, der davon ausgeht, dass alle Kinder im Gleichschritt lernen können, ist an den meisten Gymnasien gang und gäbe. Für Kinder mit Behinderung ist diese Unterrichtsmethode in der Regel ein Problem. Für gelingende Inklusion müsse sich der Unterricht daher allgemein ändern, sagt Kerstin Merz-Atalik, Professorin für Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung sowie Inklusion an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Schüler sitzen gemeinsam an einem Tisch und schreiben etwas in ihr Arbeitsheft. (Foto: SWR, SWR -)
Für eine gelingende Inklusion sollten sowohl Kinder mit Behinderung als auch ohne an einen Tisch gebracht werden.

Südtirol als Musterbeispiel für gute Inklusion

Andere Länder machen vor, wie Inklusion gelingen kann. Südtirol etwa gilt als Musterbeispiel für die Inklusion an Schulen. Alle Kinder mit und ohne Behinderung besuchen dort eine allgemeine Grundschule bis zur achten Klasse. Es gibt keine Sonderschulen. Selbst schwer mehrfach behinderte Kinder oder sogar Kinder, die im Wachkoma liegen, sind in den Schulalltag integriert. Dabei ist es selbstverständlich, dass alle Kinder zwar gemeinsam, aber jedes nach seinem Tempo lernen darf:

Erst ab Klassenstufe 9 gibt es in Südtirol eine Trennung in Gymnasium und berufliche Schule oder Ausbildung. Diese Entscheidung treffen die Eltern jedoch mit. Die Schulen kümmern sich um das für jedes Kind passende Angebot. Und auch die Architektur ist barrierefrei. Jeder Kindergarten, jedes Schulhaus ist behindertengerecht gebaut.

Frühe Trennung der Kinder als Problem

Für Pädagogik-Professorin Merz-Atalik ist die frühe Trennung der Kinder in Deutschland eines der Haupt-Hindernisse für gelingende Inklusion. Bereits in der Grundschule herrsche ein enormer Leistungsdruck. In kaum einem anderen europäischen Land werde darüber hinaus so vielen Kindern ein Förderbedarf attestiert wie in Deutschland. Merz-Atalik legt nahe, dass dies auch damit zusammenhänge könne, dass das deutsche Schulsystem besonders starr sei und viele Kinder deshalb aus dem Raster fielen.

Widersprüchliche Inklusion in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg führen die Inklusionsbemühungen zu absurden Situationen. Denn Kinder mit Behinderung werden in ein segregatives Schulsystem integriert. In derselben Klasse sitzen nun also Regelschüler zusammen, die ohne entsprechende Leistungen nicht versetzt werden. Ihre Klassenkameraden mit Behinderung werden jedoch von Klasse zu Klasse mitgenommen, selbst wenn sie im Zweifel nicht einmal richtig lesen und schreiben könnten. Das bringt viele Lehrer in Erklärungsnöte.

Kleine Fortschritte in Inklusions-Debatte

Ohne grundlegende Änderungen im Schulgesetz wird Inklusion nicht gelingen, sind sich die meisten Experten einig. Immerhin: ein Fortschritt in der Inklusions-Debatte ist erkennbar. Denn bis vor wenigen Jahren wurde noch diskutiert, ob Inklusion überhaupt gelingen könne. Heute steht das außer Frage. Dafür streiten Schulträger, Lehrer und Eltern jetzt über die konkrete Umsetzung.

Mehr zum Thema

Arbeit Inklusion – Neue Wege in Ausbildung und Beruf

Seit 2015 können Schulkinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen. Welche beruflichen Möglichkeiten bieten sich ihnen nach der Schule? Die Hürden am Arbeitsmarkt sind hoch.

SWR2 Wissen SWR2

Arbeitsmarkt Werkstätten für Menschen mit Behinderung – Kein Ort für Inklusion?

Kaum Kontakt zu Menschen ohne Behinderung. In den Werkstätten bleiben Menschen mit Handicap unter sich. Doch viele arbeiten gern hier. Auch weil es keine Alternativen gibt?

SWR2 Wissen SWR2

Sandra Roth über die schulische Inklusion ihrer schwer mehrfachbehinderten Tochter Mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer

Als ihre schwer mehrfachbehinderte Tochter in die Vorschule und Schule gehen soll, hat Sandra Roth große Mühe, die passende inklusive Einrichtung zu finden. Sie will trotzdem einen Weg finden und den beschreibt sie in ihrem Buch "Lotta Schultüte".

SWR2 Tandem SWR2

Bildung und Erziehung: aktuelle Beiträge

Erziehung Warum Grenzen für Kinder wichtig sind und wie man sie setzt

Wie viel Grenzen sind gut für mein Kind? Was ist mit meinen eigenen Grenzen? Erziehungsexpert*innen sind sich einig: manchmal braucht es ein klares Nein. Aber Grenzen dürfen auch flexibel sein - und vor allem müssen Eltern ihre eigenen kennen. Von Elena Weidt. (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/grenzen-kinder | Hier findet ihr zwei Links zu Studien mit dem Thema Erziehungsstile und den Einfluss autoritärer Erziehung: http://x.swr.de/s/parenting, http://x.swr.de/s/achievement. Weitere Links zu Studien findet Ihr im Manuskript. Wenn Ihr euch für Erziehungsthemen interessiert, könnte auch die SWR2 Wissen Sendung: „Jesper Juul – Das Erbe des Erziehungsexperten“ spannend für euch sein. Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen

SWR2 Wissen SWR2

Wissenschaft Jugend forscht: Schülerinnen gewinnen mit kompostierbarer Einwegtüte

Drei junge Frauen haben den Bundeswettbewerb „Jugend forscht“ gewonnen. Sie haben eine Einwegtüte entwickelt, die sich kompostieren lässt. Als Material benutzten sie ein mit Hanffasern verstärktes Biopolymer aus Glycerin, Essigsäure, Stärke und Wasser. Wie sind sie auf die Idee gekommen?
Stefan Tröndle im Gespräch mit Jennifer Boronowska, einer der Preisträgerinnen

SWR2 Impuls SWR2

Technik Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz in der Schule

KI-Programme wie Chat GPT werden teils jetzt schon von Schüler*innen bei Hausaufgaben eingesetzt. KI bietet viele weitere Chancen im Schulalltag. Deshalb müssen Kinder den sicheren Umgang , die Vor- und Nachteile und auch Risiken von KI lernen. Wie gelingt das am besten?
Stefan Troendle im Gespräch mit Nadine Anskeit, Pädagogische Hochschule Karlsruhe

SWR2 Impuls SWR2