Zum Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine gehen an vielen Orten in Deutschland Menschen auf die Straße, um ihre Solidarität auszudrücken. Doch nicht erst seit dem Offenen Brief von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht stehen sich die Lager unversöhnlich gegenüber. Dabei wollen alle nur eins: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Thomas Franke plädiert für eine Grundsatzdiskussion über Pazifismus.
Im Kalten Krieg war es einfach, sich zu Gewaltlosigkeit zu bekennen
Eigentlich sind sich doch alle einig: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Diese Überzeugung hat den Pazifismus der Nachkriegszeit gespeist, das Grundgesetz geprägt. Zentral dabei ist die Überzeugung: Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen.
Lange Zeit war es einfach, sich zur Gewaltlosigkeit zu bekennen. Die Verantwortung für Krieg und Frieden lag bei den beiden Großmächten – der Sowjetunion und den USA. Als vor gut 30 Jahren der Kalte Krieg vorbei war, wurde es kompliziert. Auf einmal sollte Deutschland weltweit einen aktiven Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten. Das kam hierzulande oft nicht gut an. Mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit wollte Deutschland alles Mögliche sein, nur keine Militärmacht.
Podcast „Was geht, was bleibt“: Zeitenwende. Was bleibt übrig vom deutschen Pazifismus?
Das kollektive Tätertrauma der Deutschen spaltet die Gesellschaft tief
Deutscher Pazifismus wird gespeist von der Schuld an zwei Weltkriegen und der damit verbundenen Angst vor der eigenen Stärke. Diese Angst ist Ausdruck eines kollektiven Tätertraumas. Traumata werden unbewusst über Generationen weitergegeben, bestimmen Handeln und Denken selbst derer, die sich dessen nicht bewusst sind. Das gilt für jeden Einzelnen und auch für ganze Gesellschaften.
Dieses Tätertrauma der Deutschen bricht ein ums andere Mal auf, wenn die Bundesrepublik sicherheitspolitisch oder gar militärisch gefordert ist. Und es spaltet die Gesellschaft tief. Wie tief zeigte sich zum ersten Mal deutlich im Jahr 1999, als es darum ging, ob sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz der NATO im Kosovo beteiligt. Ein Tabubruch, der die deutsche Öffentlichkeit überforderte.
Macht sich mitschuldig, wer bei drohendem Völkermord Gewaltlosigkeit fordert?
Und auch heute ist die Öffentlichkeit in der Frage gespalten, was zu tun ist, wenn nicht Deutschland andere Länder angreift, sondern es darum geht, einem angegriffenen Land zur Seite zu stehen, auch militärisch. Im Kosovo hat der Kampfeinsatz das Morden gestoppt. Die Grundfrage blieb unbeantwortet: Macht sich – wer angesichts eines drohenden Völkermordes Gewaltlosigkeit fordert – mitschuldig?
Dass diese Fragen nie ausdiskutiert wurden, rächt sich nun. Als Russland im vergangenen Jahr eine Großoffensive gegen die Ukraine startete und diese ihre Partner um Waffenlieferungen bat, traf es die deutsche Öffentlichkeit erneut unvorbereitet. Die Bitte um Beistand, vor allen Dingen um schwere Waffen, ist mit dem Ideal, Frieden ohne Waffen zu schaffen, nicht vereinbar. Das kollektive Tätertrauma brach erneut auf.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Annäherung in unerreichbarer Ferne
In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 erklärt Russlands Präsident Vladimir Putin der Ukraine den Krieg. Wenig später werden aus Kiew die ersten Bombeneinschläge gemeldet. Seit einem Jahr wütet der Krieg in der Ukraine, Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, eine friedliche Lösung scheint in weiter Ferne.
Wie wollen wir Kriege stoppen, ohne unsere Ideale zu verraten?
Ängstlich, wütend, hilflos betrachtet die deutsche Öffentlichkeit seitdem die Brutalität des russischen Angriffs auf die Ukraine. Wegsehen geht nicht mehr. Wir müssen reden: Ruhig, sachlich und im Bewusstsein der eigenen Traumatisierung.
Wir brauchen einen der Situation angepassten neuen Grundkonsens über deutschen Pazifismus. Wie wollen wir Kriege stoppen und langfristig verhindern, ohne unsere Ideale zu verraten? Pazifismus ist ein konstitutiver Teil der deutschen Gesellschaft. Die schrillen Töne, mit denen die Debatte zur Zeit geführt wird, sind nicht angemessen.
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