Die Protestbewegung im Iran dauert an. Doch die EU hält sich mit Sanktionen eher zurück. Ein Fehler, findet Gilda Sahebi. Das größte Problem sei, „dass immer noch der Glaube vorherrscht, dieses Regime sei ein normaler Ansprech- und Verhandlungspartner. Anders lässt sich die zurückhaltende Sanktionierung kaum erklären“, kommentiert die Journalistin in SWR2.
Die EU ist zu zögerlich
Schon an der Formulierung wird das Problem der europäischen Iran-Politik offensichtlich: „Die EU fordert Iran auf, die Zahl der Toten und Verhafteten zu klären, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und allen Inhaftierten ein ordnungsgemäßes Verfahren zu gewähren.“ So heißt es im gestrigen Statement des Europäischen Rats zur neuen Sanktionsrunde gegen den Iran.
Die „Verantwortlichen“ – sie sitzen in eben diesem Regime, das der Europäische Rat zur Aufklärung der eigenen Menschenrechtsverbrechen auffordert. Das größte Problem in der europäischen Iran-Politik liegt darin, dass immer noch der Glaube vorherrscht, dieses Regime sei ein normaler Ansprech- und Verhandlungspartner. Anders lässt sich die zurückhaltende Sanktionierung kaum erklären."
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. "Frauen, Leben, Freiheit": Schreibt der Iran gerade feministische Weltgeschichte?
Eine junge Frau ohne Kopftuch, die auf dem Dach eines Autos steht und „Tod dem Diktator“ ruft. Zwei Frauen, die ohne Kopftuch frühstücken gehen. Frauen, die gegen die allgegenwärtige Sittenpolizei protestieren. Noch vor kurzer Zeit wäre all das im Iran undenkbar gewesen.
Seit etwa zwei Wochen ereignen sich derartige Szenen in der Islamischen Republik immer wieder. Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei festgenommen wurde und später im Krankhaus starb. Die daraus entstandenen Proteste berühren einen Kernbestandteil der Islamischen Republik: die Pflicht für Frauen, ein Kopftuch zu tragen.
Schreiben die Frauen im Iran gerade feministische Weltgeschichte? „Ja“, sagt die Journalistin Natalie Amiri im SWR2 Podcast „Was geht - was bleibt“. „Denn auf den Straßen stehen Frauen, sie reißen sich das Kopftuch vom Leib, unter dem Beitrag von Männern und Frauen, sie verbrennen ihre Kopftücher, sie widersetzen sich der Sittenpolizei, die sie mehr als 40 Jahre lang diskriminiert hat, beleidigt, beschimpft, verhaftet und in Mini-Busse gezerrt und sie fertig gemacht hat. Die Frauen, die jetzt sagen: Wir machen nicht mehr mit.
Aber – so Amiri – das Regime schlage hart zurück. Die Frauen im Iran litten seit mehr als 43 Jahren, „ich habe nie so willensstarke Frauen wie die im Iran gesehen“, sagt Natalie Amiri. Feminist*innen auf der ganzen Welt sollten sich noch weitaus mehr mit den Frauen im Iran solidarisieren, ein Kopftuchverbot zum Beispiel in Deutschland lehnt Amiri jedoch ab: „Wenn wir hier in der Demokratie, in Freiheit Frauen verbieten Kopftücher zu tragen, wären wir nicht viel besser als die Islamische Republik.“
Die Politologin und Aktivistin Emilia Roig sieht die iranischen Proteste im Kontext eines weltweiten Feminismus: „Der Protest zeigt, wie tödlich das Patriarchat im Iran ist. “Auch in Deutschland gebe es Gewalt gegen Frauen, so Roig: „Alle drei Tage wird hier eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.“ Man müsse das Patriarchat „jeden Tag verlernen“, „wir müssen die unterlegene Position der Frauen verlernen und auch die binäre Geschlechtsordnung.“
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Host: Philine Sauvageot
Redaktion: Philine Sauvageot und Daniel Stender
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Musik und Protest: Welche Lieder braucht es für eine Revolution?
Im Iran gehen seit Mitte September jede Woche zehntausende Menschen auf die Straße - gegen die Unterdrückung von Frauen, gegen das Regime als Ganzes. Davon, und von der brutalen Niederschlagung der Proteste, bekommen wir hier nur Bruchstücke zu sehen, weil das Regime das Internet drosselt und fast keine unabhängigen Journalist*innen mehr vor Ort sind. Was bei uns ankommt: Die Musik der Revolution, so wie die Hymne „Baraye“ von Shervin Hajipour. Welche Bedeutung hat diese Musik für die Prostest - und wie hängen Musik und Protest überhaupt zusammen?
„Zu Marschmusik protestiert man nicht“, sagt der Musikjournalist Keno Mescher, denn Protest drückt sich nicht nur in den Lyrics, sondern auch in der Musik selbst aus. Und für die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan zeigt sich in „Baraye“ verdichtet etwas, dass sie „pan-progressive Proteste“ nennt. Aber was als subversive Musik beginnt, muss diesen widerständigen Charakter nicht behalten: Ob für Werbung, bei Corona-Protesten oder sogar als Genre beim Rechtsrock: Musik ist für vieles anschlussfähig.
Wenn ihr jetzt auf den Geschmack gekommen seid und noch mehr Protestsongs hören wollt: Die folgenden Lieder stehen auf der Playlist Iran von Naika Foroutan oder haben uns bei der Vorbereitung des Podcasts begleitet:
Shervin Hajipour: „Baraye“
Toomaj Salehi: „Soorakh Moosh“
Gola Ardestani „Hagham-e“
Ali Azimi / Golshifte Farahani: „Marze Por Gohar“
Yashgin Kyäni: „Bella Ciao“
James Brown: “Say it loud (I’m Black and I’m Proud)”
Victor Jara: “Derecho de vivir en paz“
Joan Baez: Bread and Roses”
N.W.A. “Fuk da Police”
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Host: Pia Masurczak
Redaktion: Pia Masurczak und Giordana Marsilio
Aktuell Proteste im Iran: Scholz kritisiert iranische Führung hart
Die Themen: Proteste im Iran und kein Ende ++ Ukraine feiert russischen Abzug aus Cherson ++ Neue Erfolge für US-Demokraten bei den Midterms ++ COP27-Zwischenbilanz – Gute Stimmung, wenige Fortschritte ++ COP27: Hohe Preise, schlechte Versorgung - Abzocke Klimakonferenz? ++ Kolumne