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Deutschland schrumpft doch nicht – Prognosen und ihre Folgen

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Ingeborg Breuer

Entgegen bisheriger Prognosen steigt in Deutschland die Bevölkerungszahl. Sind Probleme wie Pflegenotstand und Rentenkrise damit überwunden?

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Jahrelang schien ausgemacht, dass Deutschland vergreist. Dass kaum mehr Kinder geboren werden, die Rentenkassen überlastet sind und die Städte schrumpfen. So schilderte zum Beispiel das Magazin Stern die Zukunft düster:

„Das Deutschland von morgen wird ein Land der leeren Häuser sein, bewohnt von Greisen ohne Enkel, mit …verödeten Vierteln, vereinsamten Spielplätzen, verfallenen Schwimmbädern…. Wo früher Kinder tobten, werden Alzheimer-Patienten in Rollstühlen sitzen“.

Doch heute wächst die Bevölkerung wieder. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln titelt euphorisch: „Schrumpfen war gestern.

Dr. Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock bestätigt: In Deutschland werden wieder mehr Kinder geboren. Er sieht in ganz Deutschland einen relativ robusten Aufwärtstrend. Zur Zeit bekommt jede Frau im Schnitt 1,5 Kinder, das ist im internationalen Vergleich immer noch wenig. Doch die Entwicklung zeige einen Aufwärtstrend, der jetzt auf die 1,6 zugehe. Für diesen Trend hin zu mehr Geburten macht Demographie-Experte Klüsener vor allem zwei Gründe verantwortlich:

  • Eine sehr positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
  • Die Familienpolitik, die die Betreuungssituation für Kinder deutlich verbessert hat

Babyboomer bekommen viele Kinder

Davon ist Deutschland noch weit entfernt. Außerdem ist der Anstieg der Geburtenzahlen nur ein Zwischenhoch, sagt Christian Fiedler vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Die Babyboomer hätten viele Kinder bekommen, die heute selbst im gebärfähigen Alter sind. Das setze sich wie ein Echoeffekt in die nächste Generation fort. Aber es sei absehbar, dass die nächste Generation nicht mehr so stark sein werde.

Bevölkerungswachstum durch starke Zuwanderung

Eine Zuwanderung zum einen aus wirtschaftlich schwächeren europäischen Ländern, zum anderen seit 2015 vor allem aus den Krisen- und Armutsgebieten der Welt. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln versucht, diese neuen Zuzüge auf die Zukunft zu berechnen. Danach wird die Bevölkerung bis 2021 auf etwa 83,9 Millionen ansteigen. Später werde die Wanderungswelle nachlassen. Bis 2035 erwartet das DIW einen Bevölkerungsstand von etwa 83,1 Mio. Menschen.

Das sind immerhin etwa drei Millionen mehr als das Statistische Bundesamt in seiner Vorausberechnung angibt. Aber langfristige verlässliche Prognosen zum Bevölkerungswachstum sind immer schwer zu treffen.

Demographische Krise wird durch Zuzug von Flüchtlingen zumindest aufgehalten

Doch die Bevölkerungsforscher sind skeptisch, ob dadurch Probleme wie Fachkräftemangel, Pflegenotstand und Rentenkrise gelöst werden.

Als im Sommer 2015 die große Flüchtlingswelle einsetzte, hatte die deutsche Wirtschaft große Hoffnungen, die nach Deutschland strömenden jungen Männer würden sich schnell für jene Berufe qualifizieren, für die dringend Personal gesucht wird. Und hätten sie erst Arbeit, dann könnten sie den Fachkräftemangel beheben helfen. Und außerdem noch dazu beitragen, das wegen der zunehmenden Zahl von Rentnern drohende Rentenloch mit ihren Einzahlungen zu stopfen. So die optimistischen Erwartungen.

Schnell zeigte sich aber, dass die Integration von Geflüchteten auf den Arbeitsmarkt nicht so einfach ist, sagt Reiner Klingholz. Doch der Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat Hoffnung: „Die sind jung und im besten Fall in ein paar Jahren so gut ausgebildet und qualifiziert, dass sie dann, wenn die Babyboomer in Rente gehen, bereit stehen und dieses Loch auf dem Arbeitsmarkt stopfen.“

Ob dies wirklich gelingt, ist nach wie vor ungewiss. Etliche der jungen Geflüchteten haben nur niedrige Schulabschlüsse. Zudem ist für viele die deutsche Sprache ein großes Hindernis.

Zuwanderung ist nicht die Lösung für unsere Probleme

Thomas Straubhaar ärgert sich über Aussagen, dass die Zuwanderer Deutschlands Rentenprobleme lösen werden. Der VWL-Professor und frühere Direktor des Weltwirtschaftsinstituts sagt:

Zuwanderung ist nicht die eine eierlegende Wollmilchsau, die alle Probleme, die wir haben, lösen wird und dazu gehört die demografische Alterung. Zu glauben, dass man jetzt junge Leute aus Syrien holt, damit die unsere Rentenprobleme lösen, das ist absurd. Das ist auf Dauer ein Nullsummenspiel, das uns nicht wirklich hilft bei diesen Themen, Alterung, Fachkräftemangel. Die müssen wir selber lösen.

Straubhaars jüngstes Buch heißt: „Der Untergang ist abgesagt. Wider die Mythen des demografischen Wandels“. Der Ökonom vertritt darin die These, dass durch die Digitalisierungsprozesse der Industrie 4.0 der Bedarf an Fachkräften ohnehin reduziert wird.

Wenn Sie nur unterstellen, dass es pro Jahr in der Größenordnung von einem Prozent der Arbeitsplätze sind, die durch neue Technologien verloren gehen, dann verschwindet dieser Fachkräftemangel ohnehin. Dann sollten wir sogar glücklich sein, dass wir zahlenmäßig – was ja gar nicht sicher ist – weniger werden, weil als Folge der Digitalisierung auch weniger Menschen benötigt werden, die im Erwerbsleben Produkte und Dienstleistungen generieren.

Für den Demoskopen Klingholz sind solche Prognosen verfrüht. Die Erfahrungen in der Vergangenheit würden dagegen sprechen, dass durch eine Weiterentwicklung der Digitalisierng tatsächlich Arbeitsplätze wegfallen.

Seit der Zeit, als in Deutschland noch 90 Prozent aller Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet haben, gab es zahllose Rationalisierungswellen. Ein Mähdrescher leistet die Arbeit von 1000 Menschen mit der Sense. Das heißt aber nicht, dass die Beschäftigung in Deutschland zurückgegangen ist. Im Gegenteil, die Menschen arbeiten eben nicht mehr mit der Sense, sondern können heute sinnvollere produktivere Arbeiten verrichten.

Geht es jüngeren Gesellschaften besser?

Der Koblenzer Mathematiker und Statistik-Kritiker Gerd Bosbach warnt davor, die Bevölkerungsdaten als entscheidendes Kriterium für unsere Zukunft zu nehmen.

Wenn man glaubt, eine jüngere Gesellschaft ist eine bessere als eine ältere, dann hätte es uns im 19. Jahrhundert viel besser gehen müssen, weil das war eine junge Gesellschaft. Und heute müsste es Ländern wie Bangladesch, Pakistan, Nigeria sehr gut gehen, weil die eine junge Bevölkerung haben, und Ländern wie Deutschland, Schweden und USA geht so, aber auch Japan, denen müsste es sauschlecht gehen, weil die eine alte Bevölkerung haben.

Bosbach ist Koautor des 2017 erschienenen Buchs „Die Zahlentrickser: Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen“. Er hält die Befürchtungen, die mit der Alterung der Gesellschaft verbunden sind, für generell unbegründet. Seit 1870 gebe es amtliche Daten zur Bevölkerungsstruktur und seitdem seien die Deutschen immer älter geworden. Schlechter sei es ihnen allerdings nie gegangen.

Der Mathematiker rechnet vor: seit 1990 ist die Lebenserwartung in Deutschland um über fünf Jahre gestiegen, der Anteil der über 65jährigen hat sich um mehr als 40 Prozent erhöht, der Anteil der Jungen ist um 14 Prozent zurück gegangen. Aus demografischen Gesichtspunkten sind das Horrorzahlen. Doch die Wirtschaft hat sich seither prächtig entwickelt. Selbst nach Abzug der Preissteigerungen hat unsere Wirtschaft um 40 Prozent zugelegt.

Solange Wirtschaft und Produktivität wachsen, so Gerd Bosbach, gebe es kein Rentenproblem, allenfalls ein Problem der Verteilung der Produktivitätsgewinne.

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