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Philosophieren mit Kindern

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Silvia Plahl
Silvia Plahl (Foto: SWR, privat)
Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Von Silvia Plahl

Kinder stellen Sinnfragen und wollen die Welt verstehen. Beim Philosophieren können die Kleinen viel fürs Leben lernen und wichtige Eigenschaften fördern.

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Philosophieren mit Acht- und Neunjährigen. Nicht wenigen Erwachsenen erscheint dies als zu anspruchsvoll oder zu abstrakt. Lange Zeit hat nur ein kleiner Kreis von Wissenschaftlerinnen und Pädagogen sich dafür eingesetzt. Allen voran gilt der Amerikaner Matthew Lipman als entscheidender Wegbereiter des Philosophierens mit Kindern. Inzwischen nimmt das Interesse zu. Weltweit. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen attestiert gerade Vor- und Grundschulkindern eine "urphilosophische Haltung" der Neugier und des Staunens und viel umfassendere kognitive Fähigkeiten als vermutet.

Das Philosophieren, heißt es in der Studie, könne Kinder schon in sehr frühem Alter in ihrer intellektuellen und moralisch-ethischen Entwicklung fördern. Heutigen Bildungssystemen gelinge dies nur unzureichend. Die Deutsche Unesco-Kommission betont: In der frühen Schulzeit werden bei den Kindern entscheidende Weichen gestellt.

Schutz der Neugier

Petra Tannert, seit über zwanzig Jahren als Schulleiterin tätig, hat sich für das Fach "Philosophieren mit Kindern an der Grundschule" zusätzlich qualifiziert. Sie denkt mit ihren Klassen über das Glück nach, über Computer und Gott und die Welt, über Verständnis füreinander, Toleranz und ihre Grenzen. Die Fragen der Kinder sollen im Zentrum stehen. Thematische Vorgaben gibt es für das Fach nicht, jedoch die Regel, sich an den vier Fragen des Philosophen Immanuel Kant zu orientieren: Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen? – Was ist der Mensch?

Ein Mädchen schreibt mit Kreide "Religion" auf eine Tafel im Klassenzimmer. (Foto: Getty Images, Thinkstock - Montage: SWR)
Philosophie wird bisher in Deutschlands Grundschulen stets nur als Alternative zur evangelischen und katholischen Religionslehre unterrichtet

Mecklenburg-Vorpommern war das erste Bundesland, das Philosophieren mit Kindern in der Grundschule eingeführt hat, noch in den Neunziger Jahren. Schleswig-Holstein folgte im Jahr 2011. Nordrhein-Westfalen möchte demnächst damit beginnen, ein erster Schulentwurf liegt vor. Doch wird die Philosophie in Deutschlands Grundschulen stets nur als Alternative zur evangelischen und katholischen Religionslehre unterrichtet.

Endlich streiten lernen

Hier wie dort sollen die Kinder sich mit der menschlichen Existenz auseinandersetzen – wie weit unsere Erkenntnis reicht, an welchen Werten wir unser Handeln ausrichten. Das Philosophieren zielt allerdings auch auf spezielle Kompetenzen. Die Fachdidaktikerin Christa Runtenberg, Mitautorin der Lehrpläne in Mecklenburg-Vorpommern, fasst zusammen, dass es beim Philosophieren darum geht, streiten zu lernen und auch um so etwas wie praktische Klugheit für das Leben.

Wechsel von Grundschule zu weiterführenden Schulen (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
In acht von 16 Bundesländern gibt es mittlerweile das Fach unter dem Namen "Philosophie, praktische Philosophie, Ethik, Lebensgestaltung" oder "Werte und Normen"

Und damit – davon ist Dieter Sinhart-Pallin überzeugt – fängt man am besten wirklich schon im Vorschulalter an. Sinhart-Pallin bildet in Kiel Erzieherinnen und Erzieher im Philosophieren aus. Der pensionierte Oberstudienrat geht aber auch einmal pro Woche regelmäßig in die evangelische Kita im Kieler Stadtteil Hasseldieksdamm. Dort trifft er sich im Untergeschoß mit Marie, Leonie, Jonne, Jonte, Jakob, Paul und Ben. Sie haben sich freiwillig zum "Philosophieren mit Dieter" gemeldet.

Warum stirbt man?

So rückt nun die kleine Gruppe jeden Donnerstagmorgen neben den Matratzen für den Mittagsschlaf zu einem Stuhlkreis zusammen. Die Kinder – fünf oder sechs Jahre alt – sagen, worum es hier geht: Über den Weltraum, was passiert, wenn man tot ist, warum Bäume wachsen und es überall Wasser gibt – über alles, was den Kindern wichtig ist, wird gesprochen.

Die Erzieherin Kathrin Damman arbeitet seit elf Jahren mit Kindern zwischen drei und sechs. Sie möchte die Elemente des Philosophierens genauer kennen lernen – denn manchmal fühle man sich beim kindlichen Fragen und Denken doch ziemlich unwohl als Fachkraft, sagt sie.

Aushalten von Fragen

Sinhart-Palin betont vor allem, man müsse es aushalten, dass es viele Fragen gibt, die nicht gleich beantwortet werden können, sondern über die erstmal lange nachgedacht werden muss. Es gehe darum, die Kinder überhaupt auf diesen Weg des Nachdenkens zu bringen. Ein Stück Verunsicherung zu erzeugen. Wirklich zu sagen: "Ich muss da drüber nachdenken. Vielleicht komme ich da drauf. Vielleicht kommen wir im gemeinsamen Gespräch da drauf."

Erzieherinnen und Erzieher, so der Didaktiker – können dies nur vermitteln, wenn sie auch selbst philosophieren. Doch ist Dieter Sinhart-Pallin der einzige schleswig-holsteinische Erziehungswissenschaftler, der das Philosophieren kontinuierlich unterrichtet. Dafür ist er sogar als Pensionär wieder an die Fachschule in Kiel zurückgekehrt.

Offene Fragen führen in Tiefen

Gemeinsam Fragen aufgreifen und weiterfragen und die philosophische Dimension darin erkennen – darum geht es. Allein Fragen zu stellen, sei noch kein Philosophieren, betonen die Pädagogen und Pädagoginnen. Aristoteles hielt einstmals fest: Am Anfang des Philosophierens steht das Staunen. Kinder bringen diese Grundhaltung mit, sie finden Fragen in ihrem Alltag, stellen Sinnfragen und wollen sich ihr Leben eigeninitiativ erschließen.

Der Entwicklungspsychologie zufolge sind sie im Alter von etwa sechs Jahren bereits zu Logik und Abstraktion in der Lage. Mit ihnen zu philosophieren gelingt dann sinnvollerweise im so genannten "sokratischen Gespräch": Der griechische Philosoph verwickelte die Menschen auf dem Marktplatz in Athen in einen Dialog, um mit ihnen alltägliche, vor allem moralische Fragen zur erörtern. Professor Klaus Blesenkemper erklärt den modernen didaktischen Hintergrund dazu, und zwar sei das Wichtigste hierbei die Grundhaltung des Lehrenden, der den Schülern zutraut, auch selbst denken zu können.

Aufforderung zum Denken

Professor Klaus Blesenkemper hat selbst als Philosophielehrer unterrichtet und leitet nun das Philosophische Seminar der Universität Münster. Dort können angehende Lehrkräfte Philosophie für die weiterführenden Schulen ab Klasse fünf studieren. In acht von 16 Bundesländern gibt es mittlerweile dieses Fach – als Wahl- oder Ersatzfach unter dem Namen "Philosophie, praktische Philosophie, Ethik, Lebensgestaltung" oder "Werte und Normen".

Die beiden Germanistik- und Philosophiestudentinnen Kerstin Gregor und Saskia Schär sind sich einig: Das wertvolle Staunen und neugierig sein werde den Kindern in der Schule leider oft abtrainiert. Dass sie als künftige Lehrerinnen eine Verantwortung dafür tragen, gerade mit existenziellen Themen wie Tod oder Trennung der Eltern sehr sensibel umzugehen, ist ihnen bewusst.

Sie finden aber auch, dass die Philosophie in einer kulturell immer vielfältiger werdenden Schule ebenso immer wichtiger wird. Professor Klaus Blesenkemper nennt noch eine weitere gesellschaftliche Herausforderung: der Umgang mit unendlich vielen Informationen. Hier, sagt er, seien so genannte Meta-Kognitionen gefragt, dass man nicht nur denkt, sondern über das Denken nachdenkt.