Zerstörtes Reichtagsgebäude in Berlin nach dem 2. Weltkrieg (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance/KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR)

75 Jahre Kriegsende

75 Jahre Kriegsende – Wie steht es um die deutsche Erinnerungskultur?

Stand
AUTOR/IN
Clemens Zoch

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg durch die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Heute erinnert der Gedenktag an die doppelte Befreiung von Krieg und Nationalsozialismus. Über 60 Millionen Menschen waren Nationalsozialismus, Rassenwahn und Krieg zum Opfer gefallen, darunter sechs Millionen Juden. Welchen Stellenwert hat der 8. Mai 1945 in Deutschland? Welche Verantwortung ergibt sich daraus?

In Westdeutschland galt der 8. Mai lange vor allem als Datum der Niederlage und war mit den negativen Folgen des Zweiten Weltkriegs wie Zusammenbruch, Vertreibung, Besatzung und Teilung assoziiert. Erst ab den 1960er- und 1970er-Jahren kam es langsam zu einem Perspektivwechsel.

Wendepunkt der Erinnerung: Die Rede von Weizsäcker im Bundestag 1985

Erinnerungspolitischer Wendepunkt wurde die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) im Jahr 1985. Von Weizsäcker bezeichnetet das Kriegsende als "Tag der Befreiung" - so eindeutig wie kaum ein konservativer Politiker vor ihm.

"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."

Zentrale Rolle von „Schindlers Liste“ problematisch

Filme über den Holocaust und den Nationalsozialismus sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur, erklärt Konflikt- und Gewaltforscher Professor Andreas Zick in SWR2. Vor allem „Schindlers Liste“ sei nach wie vor prägend. Das sei aber auch problematisch, weil man eine reflexive Erinnerungskultur brauche, durch die die Bürger selbst die NS-Geschichte und die eigene Verbindung zu ihr erklären können. Zick untersucht mit seinem Team seit 2017 in der MEMO-Studie die deutsche Erinnerungskultur.

„36 Prozent der Befragten sagen, unter ihren Vorfahren seien eher Opfer des NS-Regimes. Das ist zwar psychologisch nachvollziehbar, historisch aber problematisch.“

Deutsche Aufarbeitung eine Erfolgsgeschichte?

In ihrem aktuellen Buch "Von den Deutschen lernen" vertritt die amerikanischen Philosophin Susan Neiman die These: Deutschland war nicht perfekt bei der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit, hat sich ihr letzten Endes aber konsequent gestellt und die historische Schuld anerkannt. Das Böse in der eigenen Geschichte aufzuarbeiten könne zum Beweis neuer Stärke führen.

„Neben anderen Ländern ist die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung eine Leistung, eine große Leistung sogar. Dass ein Volk in der Lage war, seine Perspektive vom Opfervolk zum Tätervolk zu wechseln, ist etwas, was meiner Kenntnis nach in keinem anderen Land geschehen ist.“

Über die deutsche Vergangenheitsbewältigung diskutiert Susan Niemann mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und dem Historiker Norbert Frei im SWR2 Forum:

SWR2 Archivradio

8.5.1985 Richard von Weizsäckers Rede zur Erinnerung an den 8. Mai 1945

8.5.1985 | In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Kapitulation bezeichnet Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende als einen "Tag der Befreiung". Das war damals eine Sensation, denn so eindeutig wie er hat das kaum ein konservativer Politiker vor ihm formuliert.

9.5.1945 Reichssender Flensburg meldet Niederlage der Wehrmacht

9.5.1945 | Der Krieg ist zu Ende. Am 8. Mai 1945 tritt die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Kraft. Einen Tag später, am 9. Mai verbreitet der Reichssender Flensburg die Nachricht von der endgültigen Niederlage.

1939 bis 1945 Radio im Zweiten Weltkrieg

Im Radio verkündet Admiral Dönitz die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Damit endet ein Krieg, der zum ersten Mal in der Geschichte auch mit dem Rundfunk als Propagandamittel geführt wurde. Was hat das Radio im Krieg bewirkt?

Erinnerung an den Holocaust

Holocaust 6 Millionen ermordete Juden – Woher stammt diese Zahl?

6 Millionen Juden haben die Nationalsozialisten ermordet. Rund 4 Millionen Menschen starben in Konzentrations- und Vernichtungslagern, 2 Millionen durch Massaker. Von Gábor Paál | Text und Audio dieses Beitrags stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. | http://swr.li/holocaust

Porträt Der Historiker Raul Hilberg – Pionier der Holocaust-Forschung

Raul Hilberg, 1926 in Wien geboren, war ein US-amerikanischer Historiker und Holocaustforscher. "Die Vernichtung der europäischen Juden" ist die erste systematische Beschreibung des Holocaust.

SWR2 Wissen SWR2

28.1.1979 Zuschauerreaktionen auf US-Fernsehserie "Holocaust"

28.1.1979 | Das Wort "Holocaust" zog erst mit der gleichnamigen Serie 1979 in die deutsche Sprache ein – und das war nicht das einzige, was diese US-Serie bewirkte. Die Aufarbeitung und öffentliche Erinnerungskultur hat damals erst begonnen. Die Resonanz auf die Serie war überwältigend – aber auch gespalten, wie die Zuschauerreaktionen zeigen.

16.4.1945 Radioansprache von Anita Lasker nach ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen

16.4.1945 | Am 15. April 1945 wurde die 19-jährige Anita Lasker von britischen Truppen aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. Schon einen Tag später berichtete sie im deutschen Programm der BBC, was sie erlebt hatte.

Stand
AUTOR/IN
Clemens Zoch