Stammheim

Abriss, Terror, Schreiduelle: Der RAF-Gerichtssaal in Stammheim verschwindet

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AUTOR/IN
Andreas Langen

Das Gerichtsgebäude, das 1975 für die Strafprozesse gegen die RAF in Stammheim errichtet wurde, hat ausgedient. Die mit Historie und Schadstoffen gleichermaßen beladene Immobilie wird abgerissen, um ein neues JVA-Krankenhaus zu errichten. Ein letzter Blick in die Arena der großen Auseinandersetzung von Staat und Terroristen.

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Die ehemalige „Gerichtsfestung“ wird abgerissen

Die gebürtige Wienerin Johanna Henkel-Waidhofer ist ihr Lebtag Journalistin. Seit den 1970er-Jahren hat sie für viele große Zeitungen und Agenturen geschrieben. An einem Märzmorgen 2023 steht sie im kalten Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses Stammheim. Von hier aus hat sie vor knapp vierzig Jahren intensiv von den Prozessen gegen die RAF berichtet.

„Ich war da als AP-Reporterin und habe hier zusammengerechnet Wochen meines Lebens verbracht“, erinnert sich die Journalistin, „und mich immer auf einen Moment vorbereitet, dass ich einmal in die Eingeweide sehen kann.“.

Die Gelegenheit für den Blick hinter die Kulissen hat sich ergeben, weil dieser historische Ort bald nicht mehr existieren wird. Das Gebäude, das der „Spiegel“ mal eine „Gerichtsfestung“ nannte, wird bald abgerissen. 1975 war es in aller Eile errichtet worden, um der ersten RAF-Generation den Prozess zu machen.

RAF Gerichtssaal (Foto: Fotograf: Andreas Langen)
Gefangenen-Zugang zum Verhandlungssaal des Stammheimer Gerichtsgebäudes. Bild in Detailansicht öffnen
Die Sprachanlage im verlassenen Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes. Bild in Detailansicht öffnen
Auf dem Dach des Gerichtssaals mit dem Stammheimer Zellentrakt-Hochhaus im Hintergrund Bild in Detailansicht öffnen
Nur wenig natürliches Licht stömt im Flur in das Gerichtsgebäude Bild in Detailansicht öffnen
Eingang zum Stammheimer Gerichtssaal ... Bild in Detailansicht öffnen
... Justizbeamte haben hier die Verfahrenstage gezählt. Bild in Detailansicht öffnen
Die Überbleibsel der veralteten Kommunikationstechnik im Gerichtsgebäude Bild in Detailansicht öffnen
Sicherheitsbehälter für Explosivstoffe Bild in Detailansicht öffnen
In den 1970er-Jahren auf dem neuesten Stand: die Kommunikationstechnik im Gerichtsgebäude Bild in Detailansicht öffnen

Auf dem Gelände entsteht ein Krankenhaus für Baden-Württembergs modernstes Gefängnis

„Wir brechen ab, um Platz zu schaffen für den Neubau des Justizvollzugskrankenhauses“, referiert Corinna Bosch, Amtsleiterin Vermögen und Bau Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Das bisherige JVA-Spital residiert in der Feste Hohensaperg, einer Anlage aus dem 16. Jahrhundert.

Historie in allen Ehren, aber es braucht dringend eine zeitgemäße medizinische Versorgung von Häftlingen, und zwar am besten direkt neben dem größten und modernsten Knast des Landes, der Stammheim immer noch ist. Daher muss der RAF-Gerichtssaal weichen. Eine neue Nutzung ist nicht machbar.

 „Man sieht eigentlich aufgrund der baulichen Struktur und der Ausführungsart, dass es immer schon als Provisorium konzipiert war“, urteilt Amtsleiterin Bosch. „Also das ist nicht wirklich gut gebaut, was natürlich jetzt auch dazu beiträgt, dass man sagt, es ist kaum umnutzbar.“

RAF Gerichtssaal (Foto: Fotograf: Andreas Langen)
Wartebereich fürs Publikum im RAF Gerichtsgebäude JVA Stammheim

Richterbank, Pulte und Bänke gehen an Museen 

Nur einige bewegliche Teile der Innenausstattung bleiben erhalten, aufgeteilt zwischen den Häusern der Geschichte in Stuttgart und Bonn und dem Strafvollzugs-Museum Ludwigsburg: die Richterbank, eine der Anklagebänke, ein Teil der Stühle, Mikrofone, Telefone, Türen und Teile von den Pulten.

Johanna Henkel-Waidhofer und ihr Mann Peter Henkel, früher Korrespondent der Frankfurter Rundschau, sind noch einmal in den Sitzungssaal zurückgegangen. Der kalte Raum ist karg und fensterlos, nur die Plastik-Sitze leuchten in quietschigem 70er-Jahre-Gelb.

„Mein Stammplatz war der erste hier links und daneben saß mein Mann“, erinnert sich Henkel-Waidhofer. Sie fragt ihren Mann: „Weißt du noch, wo du bei Baader-Meinhof gesessen bist?“ Er antwortet: „In der ersten Reihe von den 50 Presseplätzen. Da saß ich immer und hab gedacht: Tja…“

Stammheim 1977: Besucherinnen und Besucher an der Vollzugsanstalt. (Foto: IMAGO, Horst Rudel)
Stammheim 1977: Wartende vor der Justizollzugsanstalt. Das Gerichtsgebäude (rechts im Hintergrund) wurde Mitte der 1970er-Jahre in kürzester Zeit für die RAF-Prozesse errichtet. Nun hat die Mehrzweckhalle ohne Fenster ausgedient.

Publikum, Richter, Angeklagte - wer hat in Stammheim eigentlich keinen Koller bekommen?

Es sind keine Heldengeschichten, die zwischen diesen Wänden geschrieben wurden, auf keiner Seite. An der Rückwand eines Saaleingangs haben Justizbedienstete mit farbiger Kreide quälend lange Strichlisten in Fünfer-Päckchen auf die Backsteinwand gekritzelt, für jeden Verhandlungstag einen.

„Hier gab es Schreiduelle“, sagt sich Johanna Henkel-Waidhofer. „Nicht nur, weil die Angeklagten stundenlang verquasten Mumpitz, gefährlichen Mumpitz vorgelesen haben, sondern auch, weil so eine aggressive Tonlage darin war. Es waren sehr harte Gerichte, sehr harte Vorsitzende Richter.“

In Bezug auf die Vorsitzenden der Verhandlungen fügt sie hinzu: „Alle mussten ja immer aufstehen, wenn das Gericht reingekommen ist. Da kann man sagen okay, aber so Sprüche wie: ‚Wer nicht aufsteht, sitzt, und zwar sofort‘. Da waren schon Sprüche, da habe ich mir oft gedacht: Hier werden auch Unterstützer rekrutiert.“

Diskussion Was bleibt vom Terror der Roten Armee Fraktion?

Es diskutieren: Stefan Aust - Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, Dr. Wolfgang Kraushaar - Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Prof. Dr. Petra Terhoeven - Historikerin, Universität Göttingen, Moderation: Martin Durm

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11.11.1974 | Nach dem Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins und dem Attentat auf den Richter Günter von Drenkmann verstärkt das Stuttgarter Innenministerium die Sicherungsmaßnahmen. | RAF | http://swr.li/raf-meins-drenkmann

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Andreas Langen