Das Gerichtsgebäude, das 1975 für die Strafprozesse gegen die RAF in Stammheim errichtet wurde, hat ausgedient. Die mit Historie und Schadstoffen gleichermaßen beladene Immobilie wird abgerissen, um ein neues JVA-Krankenhaus zu errichten. Ein letzter Blick in die Arena der großen Auseinandersetzung von Staat und Terroristen.
Die ehemalige „Gerichtsfestung“ wird abgerissen
Die gebürtige Wienerin Johanna Henkel-Waidhofer ist ihr Lebtag Journalistin. Seit den 1970er-Jahren hat sie für viele große Zeitungen und Agenturen geschrieben. An einem Märzmorgen 2023 steht sie im kalten Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses Stammheim. Von hier aus hat sie vor knapp vierzig Jahren intensiv von den Prozessen gegen die RAF berichtet.
„Ich war da als AP-Reporterin und habe hier zusammengerechnet Wochen meines Lebens verbracht“, erinnert sich die Journalistin, „und mich immer auf einen Moment vorbereitet, dass ich einmal in die Eingeweide sehen kann.“.
Die Gelegenheit für den Blick hinter die Kulissen hat sich ergeben, weil dieser historische Ort bald nicht mehr existieren wird. Das Gebäude, das der „Spiegel“ mal eine „Gerichtsfestung“ nannte, wird bald abgerissen. 1975 war es in aller Eile errichtet worden, um der ersten RAF-Generation den Prozess zu machen.

Auf dem Gelände entsteht ein Krankenhaus für Baden-Württembergs modernstes Gefängnis
„Wir brechen ab, um Platz zu schaffen für den Neubau des Justizvollzugskrankenhauses“, referiert Corinna Bosch, Amtsleiterin Vermögen und Bau Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Das bisherige JVA-Spital residiert in der Feste Hohensaperg, einer Anlage aus dem 16. Jahrhundert.
Historie in allen Ehren, aber es braucht dringend eine zeitgemäße medizinische Versorgung von Häftlingen, und zwar am besten direkt neben dem größten und modernsten Knast des Landes, der Stammheim immer noch ist. Daher muss der RAF-Gerichtssaal weichen. Eine neue Nutzung ist nicht machbar.
„Man sieht eigentlich aufgrund der baulichen Struktur und der Ausführungsart, dass es immer schon als Provisorium konzipiert war“, urteilt Amtsleiterin Bosch. „Also das ist nicht wirklich gut gebaut, was natürlich jetzt auch dazu beiträgt, dass man sagt, es ist kaum umnutzbar.“

Richterbank, Pulte und Bänke gehen an Museen
Nur einige bewegliche Teile der Innenausstattung bleiben erhalten, aufgeteilt zwischen den Häusern der Geschichte in Stuttgart und Bonn und dem Strafvollzugs-Museum Ludwigsburg: die Richterbank, eine der Anklagebänke, ein Teil der Stühle, Mikrofone, Telefone, Türen und Teile von den Pulten.
Johanna Henkel-Waidhofer und ihr Mann Peter Henkel, früher Korrespondent der Frankfurter Rundschau, sind noch einmal in den Sitzungssaal zurückgegangen. Der kalte Raum ist karg und fensterlos, nur die Plastik-Sitze leuchten in quietschigem 70er-Jahre-Gelb.
„Mein Stammplatz war der erste hier links und daneben saß mein Mann“, erinnert sich Henkel-Waidhofer. Sie fragt ihren Mann: „Weißt du noch, wo du bei Baader-Meinhof gesessen bist?“ Er antwortet: „In der ersten Reihe von den 50 Presseplätzen. Da saß ich immer und hab gedacht: Tja…“

Publikum, Richter, Angeklagte - wer hat in Stammheim eigentlich keinen Koller bekommen?
Es sind keine Heldengeschichten, die zwischen diesen Wänden geschrieben wurden, auf keiner Seite. An der Rückwand eines Saaleingangs haben Justizbedienstete mit farbiger Kreide quälend lange Strichlisten in Fünfer-Päckchen auf die Backsteinwand gekritzelt, für jeden Verhandlungstag einen.
„Hier gab es Schreiduelle“, sagt sich Johanna Henkel-Waidhofer. „Nicht nur, weil die Angeklagten stundenlang verquasten Mumpitz, gefährlichen Mumpitz vorgelesen haben, sondern auch, weil so eine aggressive Tonlage darin war. Es waren sehr harte Gerichte, sehr harte Vorsitzende Richter.“
In Bezug auf die Vorsitzenden der Verhandlungen fügt sie hinzu: „Alle mussten ja immer aufstehen, wenn das Gericht reingekommen ist. Da kann man sagen okay, aber so Sprüche wie: ‚Wer nicht aufsteht, sitzt, und zwar sofort‘. Da waren schon Sprüche, da habe ich mir oft gedacht: Hier werden auch Unterstützer rekrutiert.“
Diskussion Was bleibt vom Terror der Roten Armee Fraktion?
Es diskutieren: Stefan Aust - Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, Dr. Wolfgang Kraushaar - Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Prof. Dr. Petra Terhoeven - Historikerin, Universität Göttingen, Moderation: Martin Durm
Der deutsche Herbst
1.6.1972 Verhaftung von Andreas Baader und Holger Meins
1.6.1972 | Hintergründe und O-Töne von der Polizeiaktion in Frankfurt. BKA-Präsident Horst Herold leitet Großfahndung ein und lässt Fahndungsaufrufe verlesen. | RAF
19.6.1972 Bundesanwaltschaft zur Verhaftung von Ulrike Meinhof
19.6.1972 | Ulrike Meinhof wurde heute verhaftet. Die Staatsanwaltschaft grübelt über einem verschlüsselten Brief von Gudrun Ensslin an Ulrike Meinhof. | RAF
11.11.1974 Nach Tod des Terroristen Holger Meins: Mehr Sicherheitsvorkehrungen
11.11.1974 | Der RAF-Terrorist Holger Meins stirbt am 9. November 1974 als Folge seines Hungerstreiks im Gefängnis im rheinland-pfälzischen Wittlich. Als Reaktion darauf ermordet die sogenannte „Bewegung 2. Juni“ den Präsidenten des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann. Bis heute konnten die Täter nicht ermittelt werden. Beide Ereignisse werfen Fragen auf. Vor allem auch in Stuttgart, wo der Prozess gegen die RAF-Terroristen Andreas Baader; Gudrun Ensslin und Carmen Roll bevorsteht, die sich dort im Gefängnis Stammheim befinden. Der Süddeutsche Rundfunk befasst sich damit in der Mittagssendung „Südfunk“. Am Nachmittag des gleichen Tages hat Reporter Jochen Heuer noch weitere Informationen zum Thema.
11.11.1974 Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen in BW nach Tod von Holger Meins und Mord an Günter von Drenkmann
11.11.1974 | Nach dem Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins und dem Attentat auf den Richter Günter von Drenkmann verstärkt das Stuttgarter Innenministerium die Sicherungsmaßnahmen. | RAF | http://swr.li/raf-meins-drenkmann
12.11.1974 Untersuchung des Todes von Holger Meins
12.11.1974 | Zum Tod von Holger Meins gibt es jetzt einen ersten Untersuchungsbericht. Meins ist drei Tage zuvor infolge seines Hungerstreiks gestorben. Was der Untersuchungsbericht ergibt, berichtet „Südfunk aktuell“.
Am Folgetag gibt es weitere Ergebnisse, die der rheinland-pfälzische Justizminister Otto Theissen in einer Pressekonferenz verkündet. | RAF
15.11.1974 Nach Tod von Holger Meins: Kritik an Ärzten
15.11.1974 | Wurde der RAF-Terrorist Holger Meins im Gefängnis ärztlich angemessen versorgt? Knapp eine Woche nach seinem Tod stellen mehrere Ärzte das infrage. In Frankfurt am Main kommt es deshalb zu einer kleinen Demonstration. Die relativ lange Anmoderation des Berichts spiegelt dabei auch ein wenig die Stimmungslage in jenen Tagen.