30 Jahre World Wide Web

Offline in einer digitalisierten Welt: Alptraum statt Digital Detox

Stand
AUTOR/IN
Samira Straub

Vor 30 Jahren wurde das Internet zum kostenlosen Allgemeingut. Heutzutage gilt Digital Detox als erstrebenswerter Luxus. Doch ist es das wirklich? Ein augenzwinkerndes Gedankenexperiment eines ganz normalen Offline-Tages in einer Online-Welt.

Digital Detox - Wohltat oder Horror? Eine Frau liegt mit Hund und Laptop entspannt auf einer Wiese (Foto: picture-alliance / Reportdienste, indiv)
Die Verlockungen von Digital Detox scheinen groß: Entspannung, mehr Zeit, weniger Stress.

Das „Neuland“ Internet hat sich durchgesetzt

Lange Jahre dient das Internet (in der Anfangszeit das so genannte „Arpanet“) vor allem der Kommunikation innerhalb des Militärs, das dessen Entstehung maßgeblich finanziert. Später wird es vor allem von Universitäten und Forschungseinrichtungen genutzt.

Ende der 1980er-Jahre entwickelt der Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee vom Kernforschungsinstitut CERN das World Wide Web, das Inhalte auf hypertextbasierten Seiten über spezielle Programme, den „Webbrowsern“ zugänglich macht. Am 30. April 1993 wird das Tool für die Allgemeinheit freigegeben – kostenlos. Inzwischen ist auch das Internet kommerzialisiert worden und über die Universitäten hinaus verfügbar.

Damals ahnt noch niemand, was für einen grenzenlosen Einfluss dieses ominöse „Internet“ auf die Welt und ihren Alltag haben sollte.

„Das Internet wird sich nicht durchsetzen“, prognostiziert der renommierte Trendforscher Matthias Horx noch im Jahr 2001. Rund 12 Jahre später erntet die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel gehörigen Spott, als sie das Massenmedium Internet zum „Neuland“ deklariert. Jetzt, wieder zehn Jahre später, ist auch der letzte Zweifel daran ausgeräumt, dass das Internet aus unser aller Leben nicht mehr wegzudenken ist.

Dazu gehören auch die viel diskutierten Schattenseiten des Internets. Der Wunsch nach Digital Detox scheint heutzutage groß, Hauptsache weg von Trollen und Bots. Aber wäre ein Leben ganz ohne Internet in unserer digitalisierten Welt wirklich so viel besser? Mitnichten.

Digital Detox: Buchseite mit dem Text "Alle anderen sind online" (Foto: picture-alliance / Reportdienste, indiv)
Wie läuft der Offline-Alltag in einer Online-Welt ab?

Protokoll: Ein beispielhafter Tag ohne Internet

8.00 Uhr Der Wecker klingelt. „Alexa, Licht an!“ rufe ich instinktiv. Nichts geschieht. Schlaftrunken ziehe ich die Rolläden hoch und renne mir im dunklen Schlafzimmer den kleinen Zeh an.

8.08 Uhr Die Morgendusche muss heute ohne musikalische Untermalung stattfinden, denn das moderne Radio im Bad gibt ohne Internet nichts als Rauschen aus.

8.24 Uhr Ich schlürfe meinen Kaffee. Was ist wohl los in der Welt? Wie gerne würde ich beim Frühstück Zeitung lesen. Doch mein Briefkasten ist leer, digitalen Abonnements sei dank.

8.26 Uhr Dann scrolle ich eben durch meine Feeds...Verdammt! Ich sehe aus dem Fenster und wünsche mir, dass der Tag ein schnelles Ende findet.

8.31 Uhr Ganz schön kalt hier. Abhilfe gibt es aber nicht, das Thermostat lässt sich nur via App verstellen. Ich greife mir einen weiteren Pullover.

Digital Detox: Ein Mann liegt auf einem Sofa und schläft, das aufgeklappte Laptop steht neben ihm auf dem Couchtisch (Foto: picture-alliance / Reportdienste, indiv)
Nur kurz die Mails checken oder eine schnelle Nachricht? Ohne Internet ist man schnell ziemlich abgeschnitten.

9.15 Uhr Eigentlich sollte ich jetzt arbeiten. Doch als Online-Journalistin ohne Internet hat das wohl keinen Sinn. Ich rufe beim Arbeitsamt an, natürlich nachdem ich die Nummer im örtlichen Telefonbuch nachgeschlagen habe.

9.33 Uhr In 45 Minuten habe ich einen Arzttermin in der Nachbarstadt.

9.46 Uhr Die Straßenbahnen fahren heute nicht, wie ich schmerzlichst an der Haltestelle erfahren muss. Ich sitze im überfüllten Schienenersatzverkehr.

9.48 Uhr Eine Schulklasse steigt zu, ganz schön laut hier. Durch meine Kopfhörer dröhnt: Stille. Ohne Internet nützt einem auch das beste Spotify-Abo nichts.

9.53 Uhr Der Schienenersatzverkehr fährt nicht mal im Ansatz an meine Endstation. Ich kehre um und nehme ausnahmsweise das Auto.

10.16 Uhr Wo genau war nochmal diese Praxis? Ich bin zu stolz, einen Passanten nach dem Weg zu fragen und probiere allein mein Glück.

10.18 Uhr Ich krame den Straßenatlas aus dem Handschuhfach.

Digital Detox: Auf einer Landkarte liegen Kompass, Matchboxauto und andere Geräte (Foto: picture-alliance / Reportdienste, indiv)
Mit einem Kompass umgehen oder einen Straßenatlas lesen – Kompetenzen die in Zeiten von Navigationssystemen verschwunden scheinen.

10.34 Uhr Pünktlich ein paar Minuten zu spät, aber immerhin am Ziel. Wie ich das Parkhaus mit seinen automatischen Schranken und Kennzeichenregistrierung später bezahlen soll, ist mir noch ein Rätsel.

10.42 Uhr Ich halte im Wartezimmer eine kitschige Illustrierte mit reißerischen Überschriften in meinen Händen. Nach einem Exklusiv-Interview mit Michael Schumacher lege ich das Magazin weg. Ob das wirklich stimmt? Ich werde auf die morgige Zeitung warten müssen.

10.44 Uhr Immerhin mein e-Book-Reader bleibt mir erhalten. Zumindest, bis ich das aktuelle Buch fertig gelesen habe.

11.21 Uhr Kurz nachdem ich die Praxis verlassen habe, klingelt mein Mobiltelefon. Die Sparkasse, es gäbe verdächtige Aktivitäten auf meinem Konto, ob ich einen Blick ins Online-Banking werfen könnte. Kann ich nicht.

12.30 Uhr Eigentlich hätte ich jetzt ein Lunch-Date, was ich vor ein paar Tagen via Tinder vereinbart habe. Ob es noch Gültigkeit besitzt? Ich werde es nie erfahren. Ich hole mir eine Brezel auf die Hand und beschließe, den Rest des Tages zuhause zu verbringen.

Digital Detox statt Onlineshopping? Ein Mann sitzt vor einem Laptop, in der Hand eine Bankkarte (Foto: IMAGO, imago images/imagebroker)
Online-Shopping ist Fluch und Segen zugleich, doch in manchen Fällen unerlässlich.

14.21 Uhr Siedend heißt fällt mir die Hochzeit am Wochenende ein. Ich brauche noch passende Schuhe zu meinem lila Kleid. Ich ziehe los in die Stadt, um mir welche zu besorgen.

15.04 Uhr Die ersten fünf Geschäfte haben keine lila Schuhe im Sortiment, resigniert ziehe ich weiter.

15.08 Uhr ICH SEHE LILA PUMPS! Zielstrebig laufe ich darauf zu und stelle fest: Nicht in meiner Größe.

15.43 Uhr Ein weiteres Geschäft später folgt die Erkenntnis: Die schwarzen Pumps von letztem Sommer müssen es auch tun. Gäbe es doch nur eine Möglichkeit, solche spezifischen Dinge gezielt zu suchen?

16.12 Uhr Ich treffe auf der Straße eine alte Schulkameradin, die mich aufgebracht darüber informiert, dass Bill Gates uns allen Microchips eingepflanzt hat. Sie will mir einen Telegram-Link schicken, ich muss glücklicherweise passen. Zum ersten Mal heute bin ich froh über mein neues Offline-Leben.

Ein Handy vor einer Tür  (Foto: IMAGO, imago images/imagebroker)
Die Haustür per App öffnen oder die Heizung am Handy runterdrehen, das ist keine futuristische Vision, sondern Normalität.

17.42 Uhr Ich stehe vor der Haustür und – komme nicht hinein. Doch nicht so smart, dieses Smarthome.

17.44 Uhr Ein Glück, dass ich in der Scheune noch einen altmodischen Hausschlüssel versteckt hatte. Die Alarmanlage, die ich bei meinem Sprung über das Hoftor aktiviert habe, wird schon irgendwann aufhören.

18.04 Uhr Nach so einem Tag hilft nur ein gutes Essen. Während ich schon an einer Lasagne arbeite, bin ich mir nicht mehr so sicher über die Mengen im Rezept. Irgendwo muss doch noch das Rezept rumliegen?

18.12 Uhr Durchkrame verzweifelt die Kellerkisten nach dem Kochbuch von Jamie Oliver. Als ich es schließlich finde, ist die Bechamel angebrannt.

18.53 Uhr: Der Pizzabote sagt am Telefon, er sei in 30 Minuten da. Ich solle doch nächstes Mal über die App bestellen. Tja, wenn der wüsste.

Handydisplay mit Apps und Benachrichtigungen (Foto: IMAGO, imago images/imagebroker)
Ein paar Stunden nicht auf das Handy schauen und schon zieren zahlreiche Benachrichtigungen das Display: Alltag für die meisten Menschen heutzutage.

19.41 Uhr: Meine Mutter ruft mich panisch an und hält mich für verunglückt, weil ich ihre WhatsApp-Nachrichten den Tag über nicht beantwortet habe. Ein dringliches Anliegen hat sie nicht.

20.04 Uhr Ab aufs Sofa und gemütlich vom Fernseher berieseln lassen. Ein spannender Thriller wäre jetzt genau das richtige, aber das gute alte lineare Programm setzt eher auf Quizshows, Rosenheim-Cops und Rosamunde Pilcher. Da muss man wohl durch.

20.31 Uhr Gab es da schon immer so viel Werbung?

21.04 Uhr Im Ernst, schon wieder?

21.21 Uhr Mir wird das zu blöd, ich schalte meine Spielkonsole an.

Digital Detox: eine Analoge Computerwelt, aufgebaut im Haus der Geschichte Bonn (Foto: picture-alliance / Reportdienste, indiv)

21.22 Uhr Ich schalte die Spielkonsole wieder aus, da ohne Multiplayer, Stores und Updates nicht mehr viel zu tun bleibt.

21.49 Uhr Aus Langeweile beschließe ich, Wäsche zu machen. Ohne zugehörige App lässt sich das Gerät jedoch nicht einschalten. Alexa, setze „Waschbrett“ auf meine Einkaufsliste, murmle ich mürrisch vor mich hin.

22.02 Uhr An Tagen wie heute hilft nur noch eine große Portion Schlaf.

22.23 Uhr Liege geschafft im Bett und kann nicht einschlafen. Ein Podcast fehlt.

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