Ausstellung

Zwischen Freiheit und Krise: Der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner im Kunstforum Ingelheim

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AUTOR/IN
Natali Kurth

Die Internationalen Tage in Ingelheim zeigen 2023 einen der einflussreichsten Künstler Deutschlands. Die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ ist keine Retrospektive, sondern dokumentiert anhand prägnanter Beispiele die stilistische Entwicklung des Künstlers.

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Das Ursprüngliche steht bei Ernst Ludwig Kirchner im Zentrum

Ihr Blick ist nach unten gerichtet, die Hände der Frau sind hinter dem Rücken verschränkt, die Beine leicht überkreuzt. Vor ihr steht ein Mann, wir sehen ihn nur in der Rückenansicht. Die beiden berühren sich mit ihren nackten Körpern. Mit dicker Farbkreide hat der junge Ernst Ludwig Kirchner diese großformatige bunte Zeichnung in lockeren Schwüngen auf Papier gebracht.

Sie ist rund einen Meter hoch und 70 Zentimeter breit und komponiert wie ein Gemälde. „Das Paar“ aus dem Jahr 1908 ist eines der Hauptwerke aus der frühen Atelierzeit des Künstlers. „Es ist die Suche nach dem Ursprünglichen. Das ist das Entscheidende bei Kirchner“, sagt Ulrich Luckhardt, Leiter der Internationalen Tage. „In Dresden im Atelier findet diese Ursprünglichkeit auch statt, nämlich das Ungezwungene Leben des Künstlers mit den Modellen, die eben keine professionellen Modelle waren, sondern die sich alle aus seinem Freundeskreis rekrutiert haben“, so Luckhardt weiter. 

So auch die zwei kleinen Mädchen, die für eine Aktzeichnung um 1910 in Kirchners Atelier posierten. Eine davon ist Franzi, die selbst in die Skizzenbücher des Künstlers eigene Bilder gekritzelt hat. Das Verhältnis vom erwachsenen Maler zu dem Kind wirft heute Fragen auf.

Hunderte Skizzen entstehen in Kirchners Berliner Zeit auf der Straße

Mit fünf Orten und motivischen Schwerpunkten dokumentiert die Ausstellung die künstlerische Entwicklung von Kirchner. 

Das Atelier in Dresden war für die Künstlergemeinschaft ein Mikrokosmos. Als Kirchner 1913 nach Berlin zog, veränderte sich sein Stil erheblich. Statt fließender Linien beherrscht nun ein rauer kantiger Zug seine Werke. Stakkato-artig scheint er seine Straßenszenen mit schwarzer Tusche aufs Papier zu bringen, die Schnelligkeit der pulsierenden Stadt findet sich in seinen Bildern wieder.

Hunderte Skizzen entstehen auf der Straße und Kirchner beobachtet aufmerksam das Treiben der Kokotten, der käuflichen Damen aus der Halbwelt.

Der Krieg löst eine Lebenskrise aus

In den Sommermonaten entflieht Kirchner dem städtischen Trubel auf die Insel Fehmarn, setzt hier seine Naturbeobachtungen fort. Die Suche nach dem Ursprünglichen durchzieht sein ganzes Werk. Seine pinkfarbenen Badenden auf Steinen wirken in ihrer Einfachheit zufrieden.

Solche Bilder findet man ab 1913 nicht mehr. Der Krieg löst in Kirchner eine Lebenskrise aus: Er trinkt, nimmt Drogen, betäubt sich, wird krank. 

„Er hat sich immer als Außenseiter gesehen. Im Zusammenhang mit der psychischen und gesundheitlichen Krise hat sich das auch verstärkt. Er hat sein künstlerischen Schaffen sehr auf sich konzentriert.“

Sein „Selbstbildnis im Morpiumrausch“ zeigt ihn mit zerfurchtem Gesicht, schwarzen Löchern als Augen und mit einem leicht wie fassungslos geöffneten Mund. Eine Tuschezeichnung, die an Alberto Giacomettis Skulpturen erinnert. 

Ein umfassender Einblick in das Schaffen des Künstlers

Insgesamt bringt die Ausstellung im Kunstforum Ingelheim das vielfältige Schaffen eines der einflussreichsten deutschen Künstlers, der in den 1980 Jahren Vorbild der Jungen Wilden in Deutschland war, anhand prägnanter und sehr prominenter Beispiele auf den Punkt.

Mehr als 90 Werke – Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken und Gemälde – geben einen umfassenden Einblick in sein Schaffen. Der Gang durch die einzelnen Stationen ist ein äußerst nachhaltiges Erlebnis. 

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Natali Kurth