Geschichten, über die nicht gesprochen wird - der neue Roman von Ulrike Draesner „Die Verwandelten“ beschäftigt sich mit blinden Flecken. Es geht um Frauen, die noch viele Jahre später mit traumatischen Erfahrungen aus dem Krieg zu kämpfen haben. Begleitend zum Buch hat Ulrike Draesner eine Ausstellung gestaltet, die sich sensibel und vielstimmig auf Spurensuche in Worten und Biografien begibt.
Eine Ausstellung, auf die man sich einlassen muss
„Zur Sprache bringen“ – das ist keine Ausstellung, die man mal kurz nebenbei mitnimmt. Man muss sich vertiefen wollen, bereit sein, sich auf versteckte Botschaften einzulassen. Und das geht nicht ohne Hindernisse, meint Autorin und Kuratorin Ulrike Draesner:
„Die Idee war: ich komme hier aus dem Alltag. Ich bin gewöhnt an diese schnell vorbeifliegenden lauten Botschaften. Alles stürmt auf mich ein. Werbung will gelesen werden. Und wenn es auf meinem Handy zu klein ist, mache ich es größer.“
Das könne man hier nicht, in der Ausstellung, so Draesner: „Ich muss raus aus diesem Wahrnehmungsmodus. Ich muss meine eigene Aufnahmebereitschaft mitbringen. Und deswegen gehen wir eine Treppe hinauf – gerne langsam und lesen gelbe Schrift auf weißer Wand.“

Verletztende Erlebnisse werden über die Generation hinweg weitergegeben
Eine Mühe, die letztlich den Opfern, den von Missbrauch betroffenen Frauen dieser Ausstellung Respekt zollt, die jahrzehntelang erfahren haben, dass ihnen niemand zuhören wollte oder konnte, die sich ins Schweigen zurückgezogen haben. In diesem Sinne will die Ausstellung im wahrsten Sinne des Wortes „zur Sprache bringen“:
„Wie gehen wir um mit Menschen, die eine tiefe seelische Verletzung erlebt haben, die traumatisiert sind, die nicht über dieses Ereignis sprechen können. Wie gehen wir als Gesellschaft um, wenn solche Menschen unsere Großmütter waren, unsere Mütter, was haben wir übernommen?“.
Inzwischen wüssten wir, dass verletzende Erlebnisse über die Generation hinweg weitergegeben werden, sagt Draesner und fragt: „Wie können wir gemeinsam diese Ereignisse zur Sprache bringen, damit auch wir – damit meine ich meine Generation der Babyboomer – nicht unbewusst diese Inhalte auch weitergeben an die nächste Generation?“
Ein Thema: Vergewaltigung von Frauen als Kriegsstrategie im Zweiten Weltkrieg
Zwei große Themen verhandelt die Ausstellung, die sich auf mehrere Räume und Etagen im Stuttgarter Literaturhaus verteilt. Vergewaltigung von Frauen als gezielte Strategie männlicher Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs, ist der eine Schwerpunkt.
Dazu gehört die Schutzlosigkeit, die Frauen und Kinder in den letzten Kriegsjahren 1944/45, vor allem auch auf der Flucht erlebt haben, die sie zu Opfern gewalttätiger Übergriffe gemacht haben. Eine Schutzlosigkeit, die aktuell der Krieg in der Ukraine wieder sehr deutlich macht.
Der zweite Schwerpunkt widmet sich den Lebensborn-Kindern
Der andere Schwerpunkt gilt dem nationalsozialistischen Zeugungsprogramm „Lebensborn“. In speziellen abseits gelegenen Heimen sollten als arisch definierte Frauen Kinder möglichst mit blonden Haaren, blauen Augen und gesundem Körper für den Führer bzw. für die Front zur Welt bringen. Für ihren Roman hat Ulrike Draesner den Lebensweg dieser „Lebensborn“ Kinder recherchiert.
Die Lebensborn-Kinder wurden oft von den leiblichen Müttern zur Adoption frei gegeben (die Väter waren meistens verschwunden) und dann von nazitreuen Eltern adoptiert und als eigene Kinder ausgegeben. Diese Kinder hatten ein L in ihrer Geburtsurkunde. „Und eine Frau dachte, das hieße „lebendig geboren“, erzählt Draesner, „sie dachte, das hat jeder in seiner Geburtsurkunde, so ein l“.
Kinder sollen nach einem Krieg die Lücken der Toten stopfen
„Zur Sprache bringen“ ist eine literarische Ausstellung. Es geht auch um historische Fakten. Vor allem aber ist es eine Spurensuche. Welche Bilder transportieren Wörter wie „Kuckuckskind“ oder „Ziehmutter“? Was genau verkörpert die Generation der Babyboomer?
Ulrike Draesners ganz persönliche Antwort in der Ausstellung lautet: Kinder, die nach einem Krieg auf die Welt kommen, um die Lücken der Toten zu stopfen.
In kleinen Postkartengroßen Foto-Alben hat Ulrike Draesner Fotos und Dokumente zu Lebensborn Kindern gesammelt. „Mongoloide Idiotie“ bescheinigt ein ärztliches Gutachten einem Neugeborenen, das nach den rassischen und erbbiologischen Vorstellungen der Nazis keine Chance bekam und als „unwertes Leben“ aussortiert, getötet wurde.
Drängende Fragen wie: ist unser Embryonenschutzgesetz noch zeitgemäß?
Wie gesagt: man muss sich einlassen auf diese vielstimmige, intensive und sehr sensible Ausstellung, die für Ulrike Draesner drängende Fragen aufwirft.
So zum Beispiel die Frage zu unserem Embryonenschutzgesetz, das vom Beginn der 1990er-Jahre stammt und eines der strengsten der Welt ist. „Ich denke, es ist an der Zeit darüber nachzudenken, ob das 30 Jahre später noch trägt“, findet Ulrike Draesner.
„Die Frage ist, wie weit wir noch unter dem Bann der nationalsozialistischen Geschichte stehen. Da gibt es Diskussionsbedarf, was klar wurde, als der Ukraine-Krieg begann und als öffentlich wurde, wie viele Leihmütter für deutsche Babys in der Ukraine leben.“
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Die Lyrikerin wurde vielfach ausgezeichnet, lehrte und lebte an der englischen Eliteuniversität in Oxford und ist Professorin in Leipzig und Berlin. Ulrike Draesner scheint keine Tabus zu kennen. Alles, was einem Menschen widerfahren kann, ist es ihr wert, in einem Gedicht abgebildet zu werden. So finden sich zwischen Lyrik über Wald und Tiere auch die Klage über ein fehlgeborenes Kind, die Auseinandersetzung mit einer distanzierten Mutter, Liebesgedichte und Gedichte über Trennungen.
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Rezension von Beate Tröger.
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60126-5
480 Seiten
25 Euro
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Mare Verlag
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20 Euro