Connecting Stories: Kapitel 4 - Erinnerung / Aufbrechen

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Kapitel 4 zeigt den Leser*innen Erinnerungen, die die Künstlerinnen Julia Kleinbeck, Lucie Langston und Antonia Kühn geprägt haben. Erinnerungen an Vergangenes, an Historisches, an Momente und Menschen. Ein Blick von erwachsenen Frauen auf die (ihre) Vergangenheit.
Thematisch erwarten uns in Kapitel 4 Erinnerungsfetzen an die Pubertät, die Zeit der großen Ungewissheit, des Aufbruchs, des Verliebens, des Scheiterns, des Mauerfalls und was passiert, wenn Erinnerungen anfangen zu verblassen.
Gastkünstlerin: Antonia Kühn

Connecting Stories: Kapitel 4 - Erinnerung  Aufbrechen (Foto: ARD Kultur/Lucie Langton, Julia Kleinbeck, Antonia Kühn)
Erinnerung / Aufbrechen IV
Connecting Stories: Kapitel 4 - Erinnerung  Aufbrechen (Foto: ARD Kultur/Lucie Langton, Julia Kleinbeck, Antonia Kühn)
Connecting Stories: Kapitel 4 - Erinnerung  Aufbrechen (Foto: ARD Kultur/Lucie Langton, Julia Kleinbeck, Antonia Kühn)
Ich war zehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Jahrelang hatte ich durch mein Ostberliner Kinderzimmerfenster auf sie geschaut. Ich konnte in den Wohnungen auf der anderen Seite winzige Menschen erkennen.
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Plötzlich fehlte ein Stück der Mauer und man konnte einfach hindurch spazieren.
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Etwa zwei Wochen später holte ich mit meinen Eltern am Hermannplatz das Begrüßungsgeld ab. Ich gab alles bei Karstadt aus, der sich direkt über der Bank befand.
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Ich kaufte in der Feinkostabteilung eine Stiege Capri-Sonne Orange, in der Technikabteilung ein Solarradio und in der Spielzeugabteilung einen Leuchtdinosaurier.
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Hallo Kapitalismus!
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Eben hatten wir noch mit unserer Klasse am sowjetischen Ehrendenkmal Kränze für die gefallen Soldaten niedergelegt. Ich erinnere mich genau, wie dieser Soldat mit dem kleinen Kind auf dem Arm schon von Weitem auf mich wirkte.
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Monumental mit Riesenbaby. - Ich hatte immer Angst, es fällt runter und erschlägt alle.
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In meiner Grundschule wurde bei einem feierlichen Fahnenappell eine Kiste auf dem Schulhof vergraben.
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Alle Schüler hatten einen Brief hineinlegen müssen, auf dem stand, was sie sich für die Zunkunft wünschten.
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In der Nacht lag ich wach und mir fiel auf, dass ich das Falsche geschrieben hatte.
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Als ich dann ein paar Jahre später in die Pubertät kam, habe ich mich immer gefragt, was ich wohl gemacht hätte, wenn sich die Mauer nicht geöffnet hätte.
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Also auf die Parteischule hätte ich sicher nicht gehen dürfen.
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„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“- (Annie Ernaux, Die Jahre)
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In meiner Erinnerung war sie wunderschön.
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Ich lernte Anna im Jahr 2000 bei ChatCity kennen. Ich war 16, sie 15. Sie saß in München, ich in Leipzig und doch waren wir mit einander verbunden.
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Wir teilten eine unendliche Traurigkeit. Eine große Melancholie. Einen akuten Weltschmerz, den nur Teenager zu fühlen scheinen.
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Anna war da. Fast jeden Abend wärmte mich ihre Stimme durch das DECT-Telefon, das heiß an meiner Wange glühte. Ich war verliebt.
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Am Telefon erzählten wir uns von einer ganz eigenen, herrlich naiven Vorstellung von Freiheit. Als Goth-Punk-Girls wollten wir nach Berlin, auf der Strasse leben, uns einen Iro schneiden.
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Bis zu jenem ereignisreichen Tag, war ich die brave, die liebe und die traurigste Teenagerin gewesen, die ich je kennengelernt hatte.
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Doch war ich überhaupt gewesen?
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Ich entwendete meinen Eltern Geld, kaufte ein Zugticket nach München und ging mit der Hoffnung, nie mehr wieder zu kommen.
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Die Zugfahrt, eine Unendlichkeit. Ich war allein. Die Einsamkeit im Rücken.
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Ich mache es kurz; Die Bahnpolizei fing mich ab. Ich verbrachte die Nacht in einer Ausnüchterungszelle. Am nächsten Morgen holte mich die Mutter mit einer schallenden Backpfeife ab.
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Im Angesicht der Mutter saß ich wieder im Zug, mit der Ewigkeit und der Einsamkeit im Abteil.
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Meiner Mutter unverzeihlich war nicht mein kleiner Ausbruch gewesen, sondern meine aufblühenden romantischen Gefühle zu einem anderen Mädchen, die sie mir mit meinem Tagebuch ausprügelte.
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In meiner Erinnerung war sie wunderschön. Aber gesehen, habe ich sie nie.
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„Manchmal schwimmen Fotos, die einem begegnen, direkt aus den Träumen heraus“ - (Katja Petrowskaja, Das Foto schaute mich an)
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Deine Erinnerung verlässt dich.
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Erinnerung an meine Kindheit sind deine Geschichten. Sie verschwinden mit dir. Werden blasser.
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Deine Geschichte hat mich getragen.
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Erinnerst Du Dich wirklich nicht?
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Du hast mich getragen.
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Welche Farbe hat Deine Erinnerung?
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Wie kann ich zu dir fahren? Zu dir aufbrechen? Dir entgegenkommen?
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Laufen unsere Erinnerungen parallel?
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Können sich unsere Erinnerungen treffen, wenn ich dir nun von früher erzähle?
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Von ganz früher. Wie du auf dem Bahnhof groß geworden bist. Du hast dort sicher viele Abschiede und Geschichten beobachtet.
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Oder von unseren unzähligen Partien „Elfer Raus!“. Du hast mich so oft gewinnen lassen.
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Können wir neue Tonwerte für unsere Erinnerungen finden?
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An was werde ich mich erinnern? Werde ich mich erinnern?
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Egal wie ich abgefahren bin. Du hast mir mit Opa immer hinterher gewunken. Daran werde ich mich immer erinnern.
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Daran werde ich mich erinnern - wirklich?
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„Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst.“ - (Annie Ernaux, Die Scham)
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SWR