Karl-Sczuka-Preis 2012

Serge Baghdassarians und Boris Baltschun: Bodybuilding

Stand
AUTOR/IN
Baltschun Badhdassarians

"Wie lang ist ein Meter? Diese Frage galt es zu klären, als im Jahr 1735 eine französische Forschungsexpedition nach Südamerika aufbrach. Dort sollten die Wissenschaftler messen, welche Entfernung zwischen dem Äquator und dem 1. Breitengrad liegt. Anhand des Ergebnisses wollte man die absolute Länge des Meters definieren. Mit von der Partie war auch der Mathematiker und Astronom Charles-Marie de la Condamine. Er wählte für seine Rückreise einen unerforschten Weg durch Amazonien und irrte in der Folge fast zehn Jahre lang durch den tropischen Dschungel." (Marcus Gammel)

Serge Baghdassarians und Boris Baltschun (Foto: (privat) - Anna Baltschun)
Karl-Sczuka-Preisträger 2012: Serge Baghdassarians (li.) und Boris Baltschun

Wie klingt ein Meter? Lautete die Adaption dieser Frage, die wir uns, ebenfalls auf dem Weg nach Amazonien und in Nachvollzug von Condamine's Unternehmung, stellten.
Kaum in Rio de Janeiro angekommen, verloren wir - die tropischen Temperaturen mögen einer der Gründe gewesen sein - unsere anvisierte Reiseroute aus den Augen. Stattdessen wurde schnell der Entschluss gefasst, den Radius radikal einzuschränken, um dadurch der unbekannten Topographie präziser auf die Spur zu kommen.

Als Werkzeug vor Ort und bei der Komposition, diente uns dabei eine der Messmethoden Condamine's - die Triangulation*. Sie wurde zum zentralen Bezugspunkt, sowohl bei der Wahl des zu erkundenden Ortes , als auch der kompositorischen Strukturierung und formalen Anlage des Stücks. Die etwa 300 Meter lange Strecke von unserer Unterkunft ('capacete') zu dem dreischenkeligen Platz namens 'largo do guimarães', gelegen in Santa Teresa, einem Stadtteil Rio de Janeiros, bildet den äußeren Rahmen. Darüber hinaus definieren wir als Sprecher (links und rechts im Stereobild ) sowohl mit dem Zuhörer, als auch mit dem - ebenfalls zu Wort kommenden - Redakteur drei Achsen (links, mitte, rechts). Nicht zuletzt wird der Zuhörer selbst mit drei zu unterscheidenden räumlichen Situationen konfrontiert: den Feldaufnahmen, dem Studio (der drei Sprecher) sowie dem jeweils eigenen Raum, in welchem Bodybuilding erklingt.

Als Referenz an den Namen und die Form des Platzes das 'largo do' ( - ein largo in c), eine Art ausgedehnter Abspann. Dabei handelt es sich um eine dreistimmige Rekomposition eines Gitarrenstücks des brasilianischen Komponisten João Teixeira Guimarães.

Die Verschränkung von Orginaltonaufnahmen mit der Bearbeitung, Kommentierung und Veränderung im Studio dient dem Versuch einer möglichst umfassenden Darstellung eines unbekannten Ortes. Dieser durch die Akkumulation der Details und Assoziationen aussichtslose Versuch führt schließlich zu einem Verlust der Orientierung, einem Scheitern, das zugleich aber eine alternative Karthographie mithilfe von Sprache, Umweltgeräuschen und Musik zu Tage fördert. Es entsteht ein Gefüge, das man einen Metaraum nennen könnte – ein Ort, der ebenso nah an der Realität ist wie davon enfernt.

*Die Triangulation (aufteilen einer Fläche in Dreiecke) ist das klassische Verfahren zur Erstellung eines trigonometrischen Vermessungsnetzes als Dreiecksnetz für die Zwecke der Erdmessung, der Landesaufnahme sowie als Grundlage für weitere Vermessungsarbeiten.

Dauer: 55'53''
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011
Redaktion: Marcus Gammel
Sprecher: Serge Baghdassarians, Boris Baltschun, Marcus Gammel

Jurybegründung

"Was als Soundscape eines Spaziergangs in Rio de Janeiro beginnt, verwandelt sich in ein Werkstattgespräch im Studio, in dem die beiden Künstler das zuvor gehörte Material analysieren und rekomponieren. Klänge und Geräusche verschwinden zunehmend hinter Regieanweisungen und Kommentaren der Autoren, woraufhin in einer weiteren verblüffenden Wendung ein Moderator eine detaillierte audiovisuelle Beschreibung des Soundscapes gibt. Seine aberwitzigen Abschweifungen evozieren ein Klangtheater in der Imagination der Hörer. Die Jury war begeistert vom virtuos-ironischen Umgang mit der Form des Soundscapes als Reisebericht, mit Radiophonie und Radioformaten."

Wettbewerb 2012

In diesem Jahr wurden 69 Wettbewerbsbeiträge aus 16 Ländern eingereicht.
Die Preisverleihung fand am 21. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2012 statt.

Über die Zuerkennung der Preise hat am Donnerstag, 26. Juli 2012, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden.

Die Autoren

Serge Baghdassarians, geboren 1972 in Fürth, studierte an der Hochschule für Künste Bremen mit den Schwerpunkten Komposition, Instrumentaldidaktik und Musikwissenschaft.

Boris Baltschun, geboren 1974 in Bremen, studierte am Institut für Sonologie in Den Haag Komposition und Elektronische Musik.

Seit 1999 arbeiten Serge Baghdassarians und Boris Baltschun in Berlin zusammen und realisieren ihre Projekte als Künstler und Musiker in Installationen, Skulpturen, Objekten, Radiostücken, Videos, Tonträgern und Performances. Ihre Gemeinschaftsarbeiten waren bisher zu erleben in Ausstellungen und Performances in Amsterdam, Berlin, Bremen, Düsseldorf, Szczecin, Stuttgart, Kingston, Brüssel, San Francisco, Freiburg, Los Angeles, Oakland, Paris, Stockholm, Ulrichsberg, Warschau, New York, Singapur, Kuala Lumpur, Rotterdam, Strasbourg, Osaka, Tokio, Genf, Prag, Donaueschingen, Dublin, Mart, Wien, Köln, Sao Paulo, Bologna und Karlsruhe. Über ihre Arbeit hielten sie diverse Vorträge. Als Radioarbeiten entstanden bisher beim Deutschlandradio Kultur: „Audioguide" (2010) und „Bodybuilding" (2011).

Stand
AUTOR/IN
Baltschun Badhdassarians