Karl-Sczuka-Preis 2013

Oswald Egger und Iris Drögekamp: Linz und Lunz

Stand
AUTOR/IN
Oswald Eggers

Das poetische Hörspiel Oswald Eggers kreist um das Werk und Leben des J.M.R. Lenz in seiner Moskauer Zeit von 1781/82.

Der Autor über sein Werk

Der Livländer Jakob Michael Reinhold Lenz (1751­1792) wuchs auf im zweisprachigen Raum, der Ort selbst trug zwei Namen: Dorpat (deutsch) und ebenso sein Anagramm: Tarbot (livisch). Man spricht fließend: lettisch, estnisch und — gebrochen — deutsch. Dementsprechend kommen auch im Stück drei gleichsam koexistierende Zustände zu sich, zur Sprache zusammen, in einander (häufig) überlagernden, (unaufhörlich) immerzu intermittierenden und (fortdauernd) iterierenden, (währenddessen) zurückweichenden und (stimmig) wieder untereinander einholenden Perioden, schwankenderen Phasen und oft trollatisch wechselständigen Unruhen und Tonlagen.

Wie ein von Bülten und Palsen gedrupft buckeliges Ungelände mit verhökerten Horsten und Windsandsenken und knuppigen Bröckel-, fast Kies-Drumlins, Inversions-Holme und Wort-Motten, wie Gnomen graues Gestein, Felsflächen und Schrammen: alles Wink-schliffe Riß- und Geschiebeformen, mit lettischen Findlings-Lehnwörtern im Livischen durchsetzt, esthnische phrasierte Flinstänze und Lieder aus gestanzten Wörtern, die auf die Welt vergessen sind, nur unbedingt beides, auftauchen und erscheinen. Was sie sagen bzw. selbstvergessen tun, aber kein Ding davon wüssten zu erinnern, nicht ununterdessen — umständehalber mitunter allenthalben Bedingungen: ist das Stück? Eins?

Schon die baltisch areallinguistische Sprach-Ungemeinschaft bildet, verbindet und formiert die arealen Areale ihrer Wind-sedimenten Landschaft, wo Worte (wie Blumen) blühen aus den Dünen und treiben (-stücke, wie Wolken, aus der Luft ge­griffen), Flick-Wortfetzen in Lettisch und Estnisch inzwischen: Der eingedeutschte Dichter Lenz erlernt („Luftgeistersprache") sprechen auf dem Brodelboden eines nichtdeutschen Fundaments aus Trümmersprachen, strukturdurchsetzt von Abschellerungen und Splitt-Silben zerscherbelten Satzwort-Koppelungen und Wortsatz-vergabelten syntaktischen Netzen.

Ein „Areal-Abecedarium im Livland-deutschen Wortlaut"*, d.i. livisch-deutsche Wörter aus der Lebenszeit des späten Lenz sowie die suffixlosen Laut- und Geräuschwurzelverben als „Herde der Verkehrung" (Lenz) verschränkt sich mit arealen Wortaggregaten aus eigenlos verstehensfreiem Deutsch. (Beispiel: alfanzen Baruschnik, Czekan, Deicht und Deistel, einkowern, Fallblan, Hackel-werk, iandern, Mälzlis marachen, Ndrig, Pado-cken-Pagler, Quaddel-Jahn, Sachtliken, Tannaw, Wadmal, Yunnan, Zehnder)

Die unentwegt entstehende Partitur der Vorgänge bringt dabei die Einsätze im Kanon regellos allnea, die Direktiven der aus- und ineinander Re­denden wirken nicht-distrikt, sie öffnen Ösenrund Bezirke, in denen ihre Stille kreist. Nicht der förmlich regelmäßig wiederkehrende Ton im Ton allein entwickelte die Rhythmik des Stückes, sondern mit ihm zugleich die noch vielgestaltigere Stille, Pausen und Nichtpausen verschränken einander mundförmig, unumgänglich und umgehend, wie Vorgänge, die nach Und-ständigen Perioden in sich selber übergingen und Wort für Wort versagen davon, wortwörtlich: das nicht­deutsche Wort „Grenze" stammt aus ebendiesem Sprachareal — als Fremdwort („graniza") -, und meint „die deutsche Eiche".

Man müßte quasi die Wortgrenzen einsilbig fällen, den ganzen Wald aus Intervallen, damit die Grenzen weg- und auseinanderfallen, Wegnetze breschend, Schleichpfade anverwandelnd und Schneisen: dorthin, wo noch und noch Lied und Licht sich verabschiedend wiegen und zu singen sind?

Von den Lautverben wurde die Untergruppe der Geräuschverben untersucht, mit dem Ziel, ihre Musterhaftigkeit hörbar zu machen, Heischesätze, ein Fries aus Frikativen, ihr interimsprachliches Intonationsmuster krakeeliert die einsilbigen Ideophone suffixlos zu onomatopoetischen Ein­sprengseln im Atem-Korn-Konglomerat talger Oberton-Gnome. Und die Tabulatur aus Geräuschverb-verwurzelten Beziehungslinien, verkündet als eine Laut-Netzhaut das Ganze Um und Auf in Gänze, den Lenz, doch nicht ohne das Land in sich unaufhörlich zu verkünden, d.i. hörbar glänzend zu beerben.

Die phontaktischen, unbeständig changierenden Grenzen zwischen der deutschdeutschen Rest­sprache und den slavisch-baltischen, ja, Wortwechselbälgern sind, wie Unlinien ineinander auf der einen Hand, die unter den je anderen der beiden verschieden Linz und Lunz sind und tun. Anverwandelt als Akustisches Krakelee, schlucklaute Silbenknäuel, labiale Zungen- und Mundwurzellaute, Räuspern, Schmatzen, das Atmen und Schnalzen komplexer Wort-für-Wort-Aggregate und Zusatz-Strukturen mit Silbenschnitt-lispelnden Ton-Koppelungen „und und und", um­gesetzt durch Klang-Interventionen (wie „knirk, krk, pak, pliuk, skriuk, svip, tink, szlark, tsurk") der „Maulwerkerinnen".

Wort für Wort erfährt dadurch eine springlebendig purzelnde Darstellung der „Idee des Lenzens" in Weltgestalt, fast metrisch a-taktiert versetzte Einzelereignisse bald und oft unvertauter Laute.

Jedes Wort für Wort verspricht, ist und hat seine Zeit. Die Gegenstände bleiben nicht umgeformt, umrandet und ausgestanzt durch und durch, die Sprache, vielmehr Schemen, Schatten und Kon­turen treten in Erscheinung, umrissen von uneinsichtigen Ideophonen davon, welche den bloßen Äußerungen ihre innere Kindheitsform entsinnen: jede Welt in der Welt mündete aus einer Kinder­welt von A bis Z, von Kujen, Riegen und Saden verhäufte Schwaden in den Sielen (das Livland des 18. Jahrhunderts): in der Tatform schlafendere Wiesen, „untergegangene" und bedeutungs-leere, wortförmig plötzliche, sofort wieder zerfallende, geborgte Iktus-Silben disparat (von „abängstigen" etwa bis „Zibchen"). Eine hellfarbige Glossen- und Stoßton-Prozession in Form von Worten und Formen ohne Worte unzusammengehöriger Namen und Dinge, rhythmisiert durch Wörter und Sachen, zwischen denen sich die Grenzen- und Ideengeschichte der innerdeutschen Grenzen des Verstehens ohne Fäden zieht.

Die Stück-Metriken der Partitur, unzusammen mit Zäsuren, bilden die andauernd rhythmische Inversion der stromernden Sprach- und Fließgefüge ineinander aus, um die das ganze Stück ganz, auf Lücke gesetzt, in eben der Weise zerredet erscheint wie die Schwebungen im zeitleeren Wortraum Ton-in-Ton: Die Sätze sind (und springen), wie Steinchen über das Wasser pitscheln (und dort Figuren zeichnen): Die Vorstellung des rumorenden Ohrwurms (ging Lenz durchs Gebirg?) wird wortstill umbetont zu einem jetzt völligeren Gewoge allein selbstverständlicher Worte einer ganzen Menge davon, für die gilt: wo viele Worte sind, ist viel Stille.

Und wenn Lenz einräumt, man solle ihn lieber Linz oder Lunz heißen (Lanz und Lonz), als zu glauben, dass sich im Namen etwas (noch und noch) anderes zutrüge, sagt er dennoch und zu­gleich, changierend mit Livischem, von einer Niederung,vom öden Niederwald, dass erzwirnt und eine Neigung dafür zeigt, was den Ausschlag gibt: Lants und lonts sind im Livischen tautologisch wie die Waldung, von Stamm zu Stamm vorschreitend, auch). Und lunz ist (istert) das, was seiner Diktion sooft einfloß, luns meint: »quabbeln«. So wie das livische Wort Lenz die »Öse« zum Zuhaken übersetzt, als Kettenglied, Schleife oder Bändchen.

Aber, so wenig aus der Vereinigung ungezählt vieler Silben und Quisquilien mithin ein Kontinuum (insichdicht: dem Sinn nach) entstünde, ebenso wenig lassen sich aus der Vereinigung und Verschmelzung aller Silben ineinander Ununterredungen mit Ungereimtem weder verschränken noch umzuklammern, während die gleichmöglichen aber, die kompossiblen Zustände (vermeintlich) zum Konfigurationsraum aggregierten, um und um Räume ohne Zeit zueinander zusammenzustücken.

Die Sensation des ununterbrochen Stetigen entsteht durch und durch, die Erscheinungen der Erinnerungen währen nur dunkel und ineinanderverworren ereignislos dauernd. Völlig dissoziierende Motive, in überschneidungsloser Parallelität gestaffelt, werden durch einen stets äußernden Kniff der beständigen Eingänge (wie im Sekundentakt der Inversion quasi) oder der spruchlosen Liaisons in Synthesen und Kaskaden des Sagens (auch der Rage)(und in Priameln) zu ahnungslosem Unzusammenhang verflochten; wobei die Fäden, oft und oft verzopft, teils­teils innenwendiger verschwinden, um erst nach dem Dreh der Rede wieder und wieder hervorzutreten: Fäden und Stränge, die sich ersichtlich auflösen und gehörig-unaufhörlich wieder ineinsfügen in strikte Jeweiligkeit des Jetzt, mündlich.

Eben durch ihre Verletzungen in der Zäsur wird die innere Metrik, die aber an sich allein aus Intervallen, Leerstellen besteht, selbstdurchsetzt hörbar. Schon ein Wort, das über und über die Grenzen der Versfüße gestikuliert und endlich springt, perforiert somit das übrige auch: Die Lücke hüpft, nimmt sich selbst aus, stutzt und unterbricht sich selbstverstimmt plötzlich und erzielt damit, dass die Zusammenverbundenheit der rhythmischen Stückchen nicht nur nicht verloren geht, während und indem sie dem Ganzen unterlaufen wirkt, aber überläuft zum Glück, dass es sie gibt.

Die Perioden werden mehr durch wortwörtliche Ballungen addiert als durch ihre syntaktischen und Silben-Gelenke zusammengehalten: Eine insichdichte Folge hervorrufender Worte überspült die implizite Rhythmik der Gliederung, von der nur mehr Residuen sich erübrigen — und Schweige-Reste. — Ist, weiß und bleibt Linz und Lunz die Frage nach dem Deutschen eine deutsche Frage?

*Oswald Egger, Euer Lenz. Suhrkamp Verlag 2013

Hörspiel von Oswald Egger
Sprecher: Jörg Pohl, Wolf-Dietrich Sprenger, Martin Rentzsch und die Maulwerkerinnen Ariane Jessulat, Katarina Rasinski und Steffi Weismann
Regie: Iris Drögekamp
Dramaturgie: Manfred Hess
Produktion: SWR 2013
Sendung: 07.03.2013
45 Min.

„Oswald Egger und Iris Drögekamp verstehen es, mit meisterlicher Eleganz Georg Büchners ‚Lenz‘ und Charles Darwins vier Jahrzehnte währende Erforschung der Regenwürmer akustisch so ineinander zu verschränken, als sei das eine aus dem anderen nicht nur historisch und motivisch, sondern auch klanglich hervorgegangen."

Akustische Spielformen. Verleihung des Karl-Sczuka-Preises für Hörspiel als Radiokunst 2013 (Foto: SWR, SWR - Tilman Stamer)
Verleihung des Karl-Sczuka-Preises 2013 an Oswald Egger und Iris Drögekamp.

Wettbewerb 2013 und Jurybegründung

In diesem Jahr wurden 68 Wettbewerbsbeiträge von Bewerbern aus 18 Ländern eingereicht. Die Preisverleihung fand am 20. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2013 statt.

Über die Zuerkennung der Preise hat am Donnerstag, 18. Juli 2013, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden.

"Oswald Egger gelingt mit dem Hörstück 'Linz und Lunz' eine vielstimmige Hommage an den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. Dabei begibt sich Egger in den Sprach- und Lebensraum von Lenz, der deutschsprachig im Livland der Goethezeit aufgewachsen ist. Egger erforscht den Klangraum der untergegangenen livländischen Sprache und verschränkt sie mit seinem eigenen poetischen Sprechen.
Die Regisseurin Iris Drögekamp inszeniert die Vielstimmigkeit des Textes als musikalischen Raum aus Wörtern. Drei Sprecher und drei Vokalkünstlerinnen (Maulwerkerinnen) erschaffen eine polyphone Sprachlandschaft. Das Hörstück öffnet den Zuhörern einen unerwarteten Imaginationsraum aus Sprachsinnlichkeit und der Kraft der Wörter gegen die Zumutungen des Lebens. Iris Drögekamp und Oswald Egger beschreiten für das Radio neue Wege der akustischen Kunst."

Über den Autor und die Regisseurin

Oswald Egger

Geboren 1963 im südtirolischen Lana/Tscherms (Italien), studierte an der Universität Wien und legte 1992 mit „Wort für Wort“ eine Abschlussarbeit zur Poetik der hermetischen Literatur vor. Er lebt als Schriftsteller auf der Raketenstation Hombroich.

1996 hatte er ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude, 1999 im Schloß Wiepersdorf. 2000 war er Writer in Residence der Chinati-Foundation in Texas, 2001 der Villa Aurora in Los Angeles. 2003 war er Gastprofessor für Poetik an der Cornell University in Ithaca/ New York. Seit 2011 ist er Professor für Sprache und Gestalt an der Muthesius Kunsthochschule Kiel. – 1989-1998 war er Herausgeber der Zeitschrift ‚Der Prokurist‘ und der ‚edition per procura‘, seit 2003 gibt er ‚Das böhmische Dorf‘ heraus. Für seine 1993 einsetzenden Buchveröffentlichungen, unter denen in diesem Jahr der Band „Euer Lenz“ vorliegt, erhielt er zahlreiche Preise: Mondsee-Lyrikpreis (1999) George-Saiko-Preis und Clemens-Brentano-Preis (2000), Christine-Lavant-Förderpreis und Förderpreis der Stadt Wien (2001), Lyrikpreis Meran und Preis der ‚Schönsten deutschen Bücher‘ der Stiftung Buchkunst (2002), Christian Wagner-Preis (2006), Peter Huchel-Preis (2007), H.C. Artmann Preis (2008), Oskar Pastior Preis sowie noch einmal die Auszeichnung ‚Das schönsten deutsche Buch‘ der Stiftung Buchkunst (2010).

Bereits 2004 erhielt er den Karl-Sczuka-Förderpreis des SWR für seine vom ORF gesendete Radioproduktion „tuning, stumm“, 2010 erhielt er gemeinsam mit Iris Drögekamp den Karl-Sczuka-Preis für das SWR-Hörstück „Ohne Ort und Jahr“.

Iris Drögekamp

Geboren 1967 in Hagen/Westfalen, studierte in Hamburg und lebt als Funkregisseurin in Baden-Baden. Seit 2007 nimmt sie außerdem Lehraufträge für Hörspiel bzw. Digitalmedien und Klang wahr an der HfG Karlsruhe, an der Hochschule Darmstadt, an der Hochschule der Medien Stuttgart, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und an der Muthesius Kunsthochschule Kiel.

Für ihre zahlreichen Radioproduktionen wurde sie mehrfach ausgezeichnet: Deutscher Hörbuchpreis (2006), Zonser Hörspielpreis (2007), RIAS-Radiopreis (2008), Europäischer CIVIS Radiopreis und Deutsch-französischer Journalistenpreis (2012).

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Oswald Eggers