Karl-Sczuka-Preis 2007

Stefano Giannotti: Geologica

Stand
AUTOR/IN
Stefano Giannotti

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"Die Welt existierte vor der Menschheit und wird auch nach ihr existieren. Sie hat durch den Menschen nur die Möglichkeit bekommen, einige Informationen über sich selbst zu sammeln."

Vor etwa 1,6 Millionen Jahren begann der Neandertaler sich von Afrika in Richtung Europa und Asien auszubreiten. Dort lebte er in den Jahren von 230.000 bis 30.000. v. Chr. Schon vor 90.000 Jahren stieß er auf den homo sapiens; dies könnte der Grund seines Aussterbens gewesen sein.

Die Geschichte beginnt 50.050 v. Chr. in Paris. Eine Gruppe Neandertaler plaudert in einem Cafe mit einer Gruppe homo sapiens. Sie trinken Kaffee und unterhalten sich über dies und das. Plötzlich gibt sich der Kellner als ein Australopithecus, noch nicht ausgestorben, zu erkennen und sprengt sich selbst kamikazegleich in die Luft. Die enorme Explosion öffnet die Tore in eine imaginäre Landschaft aus Atomen und Elementarteilchen. Die Uhr wird um 14 Milliarden Jahre auf die Zeit des Ur-Knalls zurückgestellt.

Die Oper ist entsprechend der Zeiteneinteilung in geologische Zeitalter und Zeiträume strukturiert. Als objekt- und klangerzeugtes Spiel gründet sich die Klangdramaturgie auf die Kombination und Interaktion von Fragmenten dieses fiktiven Paris im Jahre 50.050 v. Chr. Ein Saxophon, das „überhaupt nicht in diese Geschichte passt, aber echt cool klingt" (wie zu hören ist), verdeutlicht durch die parallele Klangdramaturgie die Ent­wicklung des Universums.

Geologica möchte uns auf ironische Weise zum Nachdenken darüber anregen, dass die Menschheit nur ein kurzes Intermezzo in der Entwicklung des Universums darstellt. Wie in dem Zitat von Italo Calvino nachzulesen ist, haben wir Menschen nur die kleine Möglichkeit, Wissen über uns selbst zu erlangen. Unser begrenztes Dasein sollte uns nachdenklich machen über den Sinn unseres Handelns, Tuns und Lassens, über Liebe, Kampf, Gottesglauben, das Lesen, Münzen-in-Brunnen-werfen, das Reisen, usw.

In der Klangdramaturgie ist die Idee der Menschheit kaum auszumachen, ist beinahe völlig abwesend; der Australopithecus ist wirklich der Einzige, der über den gesamten Zeitraum von 14 Milliarden Jahren immer präsent ist. Er ist Ursache und Wirkung, Grund all dessen, was in Raum und Zeit passiert, er beobachtet und kommentiert; ihm ist es möglich, problemlos die Schwelle zwischen wissenschaftlichen Ereignissen und biblischen Legenden zu überschreiten. Immer, wenn er auftaucht, geschieht Großes, Zerstörung oder Rekonstruktion; in anderen Worten: Er hat dieselbe Funktion wie der Monolith in 2001 Odyssee im Weltraum.

Geologica. All the truth about the origin of the universe
An Acoustic Folly
ca. 49 Min.

Sprecher: Stefano Giannotti, Mariola Krajczewska
Saxophone: Fabrizio Desideri
Gitarre: Fabio De Ranieri
Text, Regie und Komposition: Stefano Giannotti
Realisation: Stefano Giannotti
Produktion: Autorenproduktion 2007
Ursendung: DLR Kultur am 3. August 2007

Jury-Begründung und Wettbewerb 2007

"In seiner 'akustischen Posse' Geologica rekonstruiert Stefano Giannotti im Zeitraffer 14 Milliarden Jahre Erd- und Menschheitsgeschichte als Science-Fiction-Comic. Vom Urknall bis zum Sündenfall, von den Meteoritenschauern bis Christi Geburt schickt er Klangpostkarten von Paris nach Sevilla und hüpft dabei leichtfüßig zwischen Wissenschaft und biblischer Legende hin und her. Mit Phantasie und Erfindungsgabe kombiniert Giannotti O-Töne mit musikalischen Sequenzen und pseudoorbitalen Klängen zu kunstvollen Miniaturen: ein ironisches Vexierspiel mit akustischen Symbolen."

Die öffentliche Verleihung des Karl-Sczuka-Preises 2007 fand im Rahmen der Donaueschinger Musiktage statt. Die Laudatio auf Stefano Giannotti hielt der Medienkritiker Frank Kaspar.

Der Autor

Stefano Giannotti, geboren 1963 im toskanischen Lucca, lernte früh Gitarre, studierte Komposition bei Pietro Rigacci und wurde zwanzigjährig in seiner Heimatstadt Mitglied des Kammermusik-Ensembles "Trio Chitarristico Lucchese", mit dem er 1983-90 auf zahlreiche Gastspielreisen durch Europa ging. Seit 1989 war er als Komponist auf mehreren internationalen Musikfestivals vertreten.

Der New Yorker Audio-Künstler Alvin Curran, bei dessen Projekten "Crystal Psalms" und "Tufo Muto" er assistierte, beeinflusste seine Entwicklung zur Radiokunst. Seit 1989 entstanden Klangkompositionen und Hörstücke, die 1991 mit dem internationalen Radiokunst-Preis Macrophon'91 des Polnischen Rundfunks und 1994/95 mit dem Prix Ars Acustica International des WDR prämiert und international gesendet wurden. 1997 begann eine Zusammenarbeit mit dem italienischen Choreographen Roberto Castello, für dessen Performance "64 variazioni sul tempo" die Komposition entstand, die zur Keimzelle des 2002 mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichneten Radioprojekts "Il tempo cambia" wurde.

Giannotti lebt als freier Komponist, Hörspielmacher, Musiker und Performancekünstler in Gattaiola bei Lucca. 1998-99 war er Gast des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin. 2000 lebte er mit einem Künstlerstipendium im Schloß Wiepersdorf. Von Juli 2002 bis Januar 2003 war er Stipendiat im Künstlerhaus Worpswede.

Karl-Sczuka-Preisträger 2002 mit der Autorenproduktion "Il tempo cambia | Time changes" (1997- 2001) 32 I-Ging-Miniaturen

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Stefano Giannotti