Karl-Sczuka-Preis 2002

Radiokunstpreis an Stefano Giannotti

Stand

Stefano Giannotti wird mit dem Karl-Sczuka-Preis 2002 ausgezeichnet. Förderpreis geht an Andreas Bick.

Die Preisverleihung: Christina Weiss hält Laudatio

Die Staatsministerin für Kultur und Medien, Christina Weiss, hat in Donaueschingen die Laudatio auf den diesjährigen Karl-Sczuka-Preisträger Stefano Giannotti gehalten. Verliehen wurde der Karl-Sczuka-Preis durch SWR-Hörfunkdirektor Bernhard Hermann.

72 Einreichungen aus 20 Ländern

In diesem Jahr erreichten die Jury 72 Einreichungen von 94 Bewerbern aus 20 Ländern mit spürbar gewachsenem Anteil der jüngeren Generation. Die Gesamtzahl der Einreichungen kam damit auf den zweithöchsten Stand seit Stiftung des Preises. Eine Rekordmarke erreichte die Zahl freien Autorenproduktionen mit 32 Einreichungen. Hörspielabteilungen und andere Ressorts der ARD-Rundfunkanstalten und des Deutschlandradios produzierten 38 und damit mehr als die Hälfte der eingereichten Werke. Von ausländischen Rundfunkanstalten lagen je eine Einreichung der RAI und der BBC vor.

Preisträger

Ausgezeichnet wird Stefano Giannotti mit der Autorenproduktion "Il tempo cambia | Time changes" (1997- 2001) 32 I-Ging-Miniaturen

Geboren 1963 im toskanischen Lucca, lernte früh Gitarre, studierte Komposition bei Pietro Rigacci und wurde zwanzigjährig in seiner Heimatstadt Mitglied des Kammermusik-Ensembles "Trio Chitarristico Lucchese", mit dem er 1983-90 auf zahlreiche Gastspielreisen durch Europa ging. Seit 1989 war er als Komponist auf mehreren internationalen Musikfestivals vertreten.

Der New Yorker Audio-Künstler Alvin Curran, bei dessen Projekten "Crystal Psalms" und "Tufo Muto" er assistierte, beeinflusste seine Entwicklung zur Radiokunst. Seit 1989 entstanden Klangkompositionen und Hörstücke, die 1991 mit dem internationalen Radiokunst-Preis Macrophon'91 des Polnischen Rundfunks und 1994/95 mit dem Prix Ars Acustica International des WDR prämiert und international gesendet wurden. 1997 begann eine Zusammenarbeit mit dem italienischen Choreographen Roberto Castello, für dessen Performance "64 variazioni sul tempo" die Komposition entstand, die zur Keimzelle des 2002 mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichneten Radioprojekts "Il tempo cambia" wurde.

Giannotti lebt als freier Komponist, Hörspielmacher, Musiker und Performancekünstler in Gattaiola bei Lucca. 1998-99 war er Gast des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin. 2000 lebte er mit einem Künstlerstipendium im Schloß Wiepersdorf. Von Juli 2002 bis Januar 2003 ist er Stipendiat im Künstlerhaus Worpswede. - Landschaft, Erinnerung, Lebenszyklen, die Verschiedenheit von Stimmen und Sprachen bilden die wichtigsten thematischen Anregungen für sein Werk, dessen Spektrum von der Kammermusik zum Tanztheater, von der musikalischen Performance bis zum Hörspiel reicht.

Preiswerk

Das "I Ging" ist nicht nur ein Orakel. Seine Weisheit umfasst alle Wissenszweige. Die auf den "I Ging"-Zeichen aufgebaute akustische Dramaturgie beruht meistens auf einer ganz plötzlichen, umweglosen Darstellung der von den Titeln suggerierten Bilder, im Grunde auf einem Verwandeln der literarischen Bilder in Klanggemälde.

In anderen Fällen habe ich versucht, die Bedeutung der Schriftzeichen tiefer auszuloten. Mein Ziel ist es, durch 64 kurze Hörbilder beispielhaft etwas zu erreichen, das für eine Art Sinnbild des Menschlichen stehen kann: vergleichbar mit 64 verschiedenen Träumen, die sich als pure Bilder entfalten und in denen sich doch gleichzeitig tiefere Bedeutungen verbergen, die sich auf menschliche Archetypen beziehen.

Auszug aus der Werkbeschreibung von Stefano Giannotti

Besondere Erwähnung beim Prix Italia 2004

Beim 56. Internationalen Hörfunk- und Fernsehwettbewerb Prix Italia erhielten die 64 Hörminiaturen "Il Tempo Cambia" von Stefano Giannotti eine "Besondere Erwähnung" in der Kategorie Hörfunk(Musik/Komponiertes Werk).

Begründung der Jury:
"´Il Tempo Cambia´ verdient eine 'Besondere Erwähnung´, da das Werk, das aus einer Serie von Klang-Miniaturen besteht, eine Vielfalt zeitgenössischer musikalischer Verfahrensweisen erkennen lässt. Es stellt ein Kompendium von Kompositionsarten vor, die - verdichtet zur kurzen, fragmentarischen Stücken - wie Postkarten oder Cartoons wirken. Das Werk besticht durch den Reichtum seiner Textur und Rhythmik und einen schrullig-launigen Humor. Nach Einschätzung der Jury handelt es sich um ein zeitgenössisches musikalisches Stück, das für Hörer sehr zugänglich ist."

Online Matrix 'Il tempo cambia'

Im I-Ging entfalten die 64 Zeichen traditionell in einer Matrix aus 8x8 Zeichen ihre Bedeutung. Die Kombination der Zeichen - sowohl linear als auch per Zufall - kann spielend auf der multimedial umgesetzten Online Version von Stefano Giannotti "Il tempo cambia" nachvollzogen werden.

Besetzung

Linda Matteucci: Flöten

Marco Donatelli: Fagott

Lara Vecoli: Cello

Giuliana Menchini: Sopran

Stefano Giannotti: Gitarren, Keyboards, Harmonium, Schlagzeug, Stimme, Mundharmonikas, Maultrommel und Klavier

Weitere Stimmenund Sounds: Mariola Krajczewska, Matilde Giannotti, Renato Checcherelli., Mohsen Yousefi und Marco Sodini

Realisation: Stefano Giannotti

Produktion: Autorenproduktion 1997- 2001

Teil-Ursendung: Australian Broadcasting Corporation, Sydney - "The Listening Room", 16.7.2001

Dauer: 55'22

Entstehung des Preiswerks

1997 wurden Giorgio Lazzarini (ein weiterer Komponist aus Lucca) und ich von dem Choreographen Roberto Castello gebeten, 32 Klangbilder zu den Themen des "I Ging" für seine Aufführung '64 Variationen der Zeit' (1. Teil) zu komponieren. Roberto wollte eine Reihe kurzer Choreographien entwickeln, um sie von drei Tänzern in einem Container von 8m x 4m x 2,5m auf einem der Plätze unserer Stadt aufführen zu lassen. Jede Seite des Containers sollte völlig verschlossen sein - mit Ausnahme einiger Löcher, durch die der Zuschauer an verschiedenen Stellen die Aufführung wie in einer Peep-Show würde anschauen können. Keinem der Zuschauer würde man verraten, dass die gespielten Stücke durch das "I Ging" angeregt waren. Die einzelne Dauer jeder Miniatur (2 Minuten) sollte den Rhythmus der Aufführung bestimmen, wie eine Art musikalische Uhr.

Die Zeiten ändern sich...

Ich komponierte vierzehn Stücke, die ich "Il tempo cambia" nannte, was soviel wie "Die Zeiten ändern sich", aber auch "Das Wetter ändert sich" heißen kann. Giorgio komponierte auch vierzehn Stücke. Die restlichen vier entwarfen wir zusammen. Durch Zufallsauslosung entschieden wir, welche Stücke jeder von uns komponieren sollte. - Die Vorstellung wurde am 5. September auf dem Piazza dell' Anfiteatro in Lucca uraufgeführt.Während ich an diesem Projekt arbeitete, bekam ich den Eindruck, dass diese Reihe von vierzehn Stücken sich möglicherweise in ein autonomes Stück verwandeln ließe, das in einem Theater aufgeführt werden könnte. Dazu ergab sich ein Jahr später in Berlin die Gelegenheit: Das Ensemble Zwischentöne unter Leitung Peter Ablingers bat mich, ein Stück zu komponieren. Ich beschloss, die I-Ging-Miniaturen neu zu konzipieren. Die neue Version bezog nun Stimmen, zwei Flöten, Saxophon, Marimba, Vibraphon, Klavier, Bandoneon und Tonbandaufnahmen mit ein und wurde im Ballhaus Naunynstrasse - einem der wichtigsten alternativen Konzerthallen Berlins - uraufgeführt. Der ironische Charakter der Aufführung wurde durch minimalistische Szenenvorgänge verdeutlicht, die hauptsächlich auf einem Wechselspiel von Licht und Finsternis beruhten. Teils änderten sich die Längen der Einzelstücke. Das Ergebnis war eine Art post-industrielles surrealistisches Kabarett - in der Grauzone zwischen Alltagsleben und Archetypik, zwischen Mythologie und Kommunikation.

Mini-Hörspiele

Eine weitere, aus sechzehn Miniaturen bestehende Version habe ich im Jahre 2000 mit meiner Gruppe 'Il Teatro del Faro' für den Sendetermin 'The Listening Room' (bei ABC Radio Sydney) erarbeitet. Eine besondere Grundlage dieser neuen Version war der radiophone Charakter, der sich aus der Einfügung von Geräuschlandschaften und aus einer neuen Bestimmung der akustischen Vorgänge ergab. Einige Miniaturen verwandelten sich mit akustischen Mitteln in echte Mini-Hörspiele. Der vielstimmige Charakter der vorhergehenden Version blieb gewahrt, auch wenn ich einige der Miniaturen für andere Instrumente arrangierte (Flöte, Fagott, Synthesizer, andere Arten von Stimmen usw.). - Diese Version wurde am 16. Juli 2001 urgesendet.Seitdem entstand in mir die Vorstellung, auch Miniaturen nach den restlichen Schriftzeichen des "I Ging" zu komponieren. Ich beschloss, auch an den Zeichen zu arbeiten, mit denen sich Giorgio Lazzarini alleine und mit mir zusammen vier Jahre zuvor beschäftigt hatte. Ein erster Block mit 32 Stücken (dem ersten Buch des "I Ging") war im Oktober 2001 fertiggestellt. Die Komposition des zweiten Buches ist für nächstes Jahr geplant.

Die Weisheit des "I Ging"

Das "I Ging" ist nicht nur ein Orakel. Seine Weisheit umfasst alle Wissenszweige. Die auf den "I Ging"-Zeichen aufgebaute akustische Dramaturgie beruht meistens auf einer ganz plötzlichen, umweglosen Darstellung der von den Titeln suggerierten Bilder, im Grunde auf einem Verwandeln der literarischen Bilder in Klanggemälde. In anderen Fällen habe ich versucht, die Bedeutung der Schriftzeichen tiefer auszuloten. Mein Ziel ist es, durch 64 kurze Hörbilder beispielhaft etwas zu erreichen, das für eine Art Sinnbild des Menschlichen stehen kann: vergleichbar mit 64 verschiedenen Träumen, die sich als pure Bilder entfalten und in denen sich doch gleichzeitig tiefere Bedeutungen verbergen, die sich auf menschliche Archetypen beziehen.Ich stelle mir vor, dass diese Hörbilder jedem vertraut sein müssten (wie es auch die Bilder des "I Ging" sind). Aber wie es auch in Träumen vorkommt, sind ihre Elemente manchmal vermischt oder verworren, manchmal überdeutlich oder auf unerklärliche Weise verbunden. Ironisches, Dramatisches, Unsinn, Spiel, Tod, Fiktion, Verwirrung, Charme, Sprache - all diese stilistischen Bestandteile sind genauso in das akustische Karussell von "Il tempo cambia" einbezogen wie in unseren Lebensweg.

Förderpreisträger

Den Förderpreis erhält Andreas Bick für seine Produktion "Windscapes".

Biografie von Andreas Bick

geboren 1964 in Marl, lernte seit dem 14. Lebensjahr Gitarre im Selbststudium, lebt seit 1983 in Berlin, studierte ein Jahr lang Soziologie, hatte parallel dazu zahllose Auftritte als Musiker in einer Rock-Band und Unterricht in Harmonielehre und Musiktheorie. 1986 realisierte er erste Klangkompositionen in einem Experimentalstudio des Berliner Kultursenats. 1988 Proben und Konzert auf einem Nachbau von Oskar Salas Trautonium. Seit 1988 ist er als Toningenieur und Musikproduzent in verschiedenen Studios tätig. Mitwirkung bei der Konzeption und Ausstattung von Tonstudios. Zwischen 1992 und 1996 arbeitete er als Musikpädagoge, und baute das Modellprojekt "Hip Hop Mobil" auf.

Publikationen zu alternativen musikpädagogischen Konzepten im Bereich der Hip-Hop-Kultur; Dozent in beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, Organisation von Musikaustauschprojekten mit dem Goethe-Institut in Kamerun und in Los Angeles.

Seit 1996 freischaffender Filmmusikkomponist für Kino- und Fernsehproduktionen, u. a. orchestrale Filmmusiken für die Kinoprojekte "Pinky" und "Playboys", Titelmusik zur preisgekrönten Fernsehreihe "Sperling", Filmmusik für einige "Tatort"-Folgen sowie für die Serien "Berlin, Berlin", "Klinikum Berlin Mitte" und "Kids von Berlin".

Seit 1999 Realisierung von Hörstücken für verschiedene Radiosender (WDR3, Deutschlandradio Berlin, Radio Kultur, Ö1 etc.). 2000 Auszeichnung mit dem Prix Ars Acustica des WDR für die Klangkomposition "Dripping". 2002 Abschluß des Triptychons zu natürlichen Musterbildungsprozessen, bestehend aus den Arbeiten "Sono Taxis", "Dripping" und "Windscapes", Ursendung des neuesten Hörstückes "Der Klang der Haut" im November 2002 auf WDR3.

Förderpreiswerk

"Windscapes" - Der dritte Teil eines Triptychons zu natürlichen Musterbildungsprozessen.

Auszug aus der Werkbeschreibung von Andreas Bick:

Zuerst ist ein leises, feines Rieseln zu hören - Sand rinnt durch ein Stundenglas, fokussiert die Aufmerksamkeit des Hörers, Bilder entstehen vor dem inneren Auge: Wind kommt auf, klappernde Windgeräusche schaukeln sich auf und allmählich braust das ganze Spektrum erdenklicher Windklänge durch das Stundenglas, ehe der Sturm jäh abreißt und der Hörer sich in einer ausgetrockneten Salzpfanne inmitten einer Sandwüste wiederfindet, über die Windböen vereinzelte Sandkörner treiben.

Die Wüste als eine auf das Wesentlichste und Ursprünglichste reduzierte Landschaft, als ein Ort der Introspektion, des In-Sich-Hörens, ist der Ausgangspunkt von windscapes. Die Sandwüste in ihrer atemberaubenden Schönheit und Einfachheit stellt das Ideal einer durch den Wind geformten Landschaft dar. Das Dünenmeer und die äolischen Modulationen des Sandes erinnern an die leere Weite eines Ozeans, dessen stumme Sandwogen in einer grenzenlosen Vielfalt immer wieder aufs Neue vom Wind moduliert werden. Die fließenden Formen und Muster des Sandes scheinen sich ins Endlose fortzusetzen - wie die Zeit, zu deren Messung der Sand von Alters her diente.

Neben den realen Klanglandschaften liefern zwei Arten von Klanginstallationen das wesentliche Kompositionsmaterial für windscapes: Eine durch den Wind zum Klingen gebrachte 20 bis 30 Meter messende Langsaite sowie die Übersetzung von Sandrippelfotografien in rhythmische Sandgeräusche mit Hilfe von Körperschalllautsprechern. Die Langsaite bildet ein geschlossenes System, das allein durch das Zusammenspiel mit dem Wind tonale und rhythmische Effekte erzeugt und den makroskopischen Strukturen der Dünen zugeordnet ist. Die Sandgeräusche stellen die akustische Übersetzung der mikroskopischen Sandrippelstrukturen dar, deren rhythmisches Verhalten mit denen der Langsaite synchronisiert wurde.

Produktion: Deutschlandradio Berlin, Hörspiel Werkstatt

Redaktion: Götz Naleppa

Ursendung:7. Dezember 2001

Länge: 33 Minuten

Preisverleihung

Die unabhängige Jury unter Vorsitz des Literaturwissenschaftlers Klaus Ramm gab für ihre Entscheidung folgende Begründung:

"Il tempo cambia" (Time Changes) geht aus von den Bedeutungsfeldern der ersten 32 Zeichen des "I Ging". In einer Folge von 32 kurzen Hörszenen verwandelt Stefano Giannotti sie in eine leichtfüßig von Klangaktion zu Klangaktion hüpfende Annäherung an das undurchsichtige und widersprüchliche Geheimnis der Zeit. Das Vexierspiel der radiophonen Spots ist - bei allem hintergründigen Traditionsbezug - unmittelbar eingängig. Mit surrealem Witz und lebhafter Ironie weitet Giannotti elementare Alltagserfahrungen ins Allgemeine und Archetypische.

Die unabhängige Jury:

Klaus Ramm:
Vorsitzender; Literaturwissenschaftler

Heinrich Vormweg:
Literaturkritiker und Juryvorsitzender 1985-98

Christina Weiss:
Literaturkritikerin

Monika Lichtenfeld:
Kritikerin

Johann-Georg Schaarschmidt:
Musiktheater-Regisseur und früherer Freiburger Musikhochschulrektor

Stand
AUTOR/IN
SWR