Karl-Sczuka-Preis 2015

Gerhard Rühm: Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt

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AUTOR/IN
Gerhard Rühm

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Ein radiophones Redeoratorium für Sprecher, Geräusche und Klavier.

In konsequenter Fortführung klassischer Verfahren der konkreten Poesie zeichnet Rühm mit diesem „radiophonen Redeoratorium für Sprecher, Geräusche und Klavier“ ein berührendes Hörbild von Hugo Wolf im Raum seiner späten Einsamkeit.

Einführung durch Gerhard Rühm

"Ja, wenn ich der Hugo Wolf wäre, das wäre gut."
(hugo wolf zu einem wärter der irrenanstalt)

der text hugo wolf und drei grazien, letzter akt geht auf mein schon seit langem gehegtes vorhaben zurück, ein sprechsttick für fünf personen zu verfassen, von denen jede ausschließlich wörter auf einen der vokale U, O, A, E, I spricht, die sich allmählich zu fünfstimmigen vokalklängen überlagern. nachdem ich umfangreiche monovokale wortlisten erstellt hatte, musste für dieses formale grundkonzept natürlich ein thematischer aufhänger gefunden werden, der dem ganzen einen inneren zusammenhang verleiht, ich beschloss schließlich, auf eine bekannte historische persönlichkeit bezug zu nehmen, deren name schon die ausgangsvokale U und 0 enthält. nach längerem suchen stieß ich auf hugo wolf, der sich auch biografisch als glückstreffer erwies, wolf hatte in seinem — aufgrund einer frühen, zu geistiger umnachtung führenden syphilisinfektion — verbitterten leben drei intensive liebesbeziehungen: mit vally franck, mit melanie köchert-lang und — als turbulentes zwischenspiel — mit der sängerin frieda zerny. es ist ein merkwürdiges zusammentreffen, dass die ersten silben der drei vornamen die vokale A, E, I enthalten, wenn man hugo wolf eine doppelrolle zuweist, was im hinblick auf seine bewusstseinsspaltende erkrankung motiviert erscheint, sind mit den drei „grazien" (a,i,e!) die geforderten fünf Vokale auf einsichtige weise besetzt.

die wenigsten monovokalen wörter finden sich mit U und 0, die meisten mit E. um zwischen den fünf Wortgruppen mengenmäßig ein ausgeglichenes verhältnis herzustellen, habe ich jeder stimme fünfzig verschiedene vokabeln zugewiesen — U und 0 sind mit jeweils fünfundzwanzig vokabeln hugo wolf und seinem alter ego als doppelrolle vorbehalten, natürlich lässt sich mit einem derart reduzierten wortfundus kein längerer beschreibender text, geschweige denn ein fortlaufender dialog erstellen, was auch keineswegs vorgesehen war. handelt es sich hier also nicht um ein mehr oder weniger freies wolf-porträt, so gibt es doch, ebenso auf der text- wie auf der geräuschebene, punktuell anekdotische anspielungen auf biografisch belegte ereignisse und charakterzüge hugo wolfs.

der titelzusatz „letzter akt" meines „redeoratoriums" — der terminus geht auf den barockdichter Johann klaj, mitbegründer der sprachkreativen nürnberger „pegnitzschäfer", zurück — weist daraufhin, dass hier wolfs letzte lebensphase im blickfeld liegt, die einerseits von wahnvorstellungen, andererseits von zunehmender körperlich-geistiger erstarrung bestimmt war, das erscheinen vallys, melanies und Friedas ist also als halluzinative projektion wolfs zu verstehen, während die reduzierung und die semantische verwischung des wortbestandes in seiner zunehmenden überlagerung als modellhafter prozess mentalen versiegens gedeutet werden kann: gesagtes verliert sich am ende in reinem klang.

die drei weiblichen personen des stücks unter dem sammelbegriff „drei grazien" zu subsumieren, hatte zuerst einen bloß sprachspielerischen charakter. später erschien es mir jedoch reizvoll, den mythologischen hintergrund dieser im lockeren sprachgebrauch leicht ironisch gemeinten bezeichnung als erotisch verbindendes element wenigstens anklingen zu lassen.

im vorliegenden hörstück haben die drei grazien schon durch ihre sprache nur wenig mit realen personen zu tun. sie sind in diesem kontext als retrospektive projektionen, als wunschvorstellungen wolfs aufzufassen, wie sein alter ego sind sie in ihrer bloß memorierten präsenz ein teil seiner selbst. [...] auch wenn das hörspiel, von dem es eine alternativfassung als theatersttick gibt (ritter verlag, klagenfurt-graz 2014), nicht als literarisches porträt hugo wolfs konzipiert ist, zeigen sich doch gelegentlich annäherungen an biografische fakten, die teils beabsichtigt sind, teils wie von selbst aus dem gezielt erstellten sprachmaterial erwachsen. zwar steht hier der letzte lebensabschnitt hugo wolfs im fokus, doch überschneidet sich vergangenes mit gegenwärtigem als aktuell erlebtes in einer wahnhaften wahrnehmung.

im folgenden seien nun einige biografische bezüge aufgezeigt.

die pendeluhr.
über die schon hysterische lärm- und geräuschempfindlichkeit wolfs gibt es zahlreiche berichte. so soll ihn einmal eine zimmervermieterin aus der wohnung geworfen haben, als sie ihn dabei ertappte, wie er, genervt vom unaufhörlichen ticken der uhr, das pendel auszuhängen versuchte. bekannt sind auch seine überreizten reaktionen auf tierlaute. seit mai 1895 lehnte ein jagdgewehr an seinem arbeitstisch, mit dem er vögel zum verstummen brachte, deren gesang ihn beim komponieren irritierte. an melanie köchert schrieb er darüber: „Heute habe ich einen Finken, der mich scheußlich malträtierte, totgeschossen. Als ich den armen Kerl tot daliegen sah, überkam mich doch eine große Beklemmung und ich wünschte lebhaftigst, er wäre am Leben geblieben." und später: „Mittlerweile war ich in die traurige Notwendigkeit versetzt, noch ein paar gefiederten Störenfrieden den Garaus zu machen. Ach, man gewöhnt sich an alles."

nicht weniger ungehalten reagierte er auf applaus bei öffentlichen auftritten. in ihren Erinnerungen an Hugo Wolf schreibt rosa mayreder: „Die übliche Form, in welcher der Beifall kundgegeben wird, der Applaus, verletzte ihn; er fluchte vor jedem Konzert, in dem er selbst seine Lieder begleitete, über das scheußliche Geräusch, das einem nach jedem Stück die Oh- ren zerreißt, und er pflegte sich nicht zu verneigen. Bei dem letzten Konzert, das er selbst gab — am 22. Februar 1897 —, wollte er allen Ernstes auf die Programme drucken lassen: ,Applaudieren verboten', und nur den eindringlichen Vorstellungen seiner Freunde gelang es, ihn davon abzuhalten."

das kinderklavier versinnbildlicht die krankheitsbedingte regression in ein infantiles stadium. als hugo wolf das von ihm für klavier bearbeitete meistersinger-vorspiel seines idols richard wagner, das er früher pianistisch perfekt beherrscht hatte, einem freundeskreis zu gehör bringen wollte, verließ ihn schon nach den ersten takten sein gedächtnis; vergebliche versuche, den verlorenen faden wiederzufinden, brach er verstört ab. in modifikation dieser begebenheit habe ich die meistersinger durch seine eigene oper der corregidor ersetzt, deren übermäßige dreiklänge zu beginn in einem parallelverhältnis zu dem verminderten septakkord-thema der später erklingenden rejcha-fuge stehen: beide intervallschritte führen über ihre repetition nicht hinaus, bleiben in sich gefan-gen, was — in übertragenem sinn — mit dem von zwangsvorstellungen beherrschten psychopathologischen zustand hugo wolfs korrespondiert. die vierstimmige fuge des tschechischen komponisten antonin rejcha (1770-1836) entstammt seinen erstaunlich „experimentellen" 36 fugen O. 36, die während seines wien-aufenthalts 1802 bis 1808 entstanden sind.

das „tanzende" (zu boden flatternde) blatt papier. bei wolf wechselten perioden rauschhafter inspiration mit solchen lähmender eidallslosigkeit. er konnte stundenlang vor einem noten- blatt brüten, ohne etwas zustande zu bringen. auch die reizwörter „tanzt" und „nackt" im text vallys lassen sich biografisch zuordnen: ab 1899 wurde wolf in der heilanstalt in ein gitterbett verlegt, aus dem er, oft nicht zu halten, heraussprang und nackt im zimmer herumtanzte. der ausbruch des gewitterregens und vallys ruhe gebietendes „halt!" verweisen auf wolfs allmachtsphantasie, er sei jupiter und könne Ober regen und sonnenschein gebieten; der vorangegangene imperativ „es regne!" fällt, dem Prinzip der monovokalen aufteilung zufolge, melanie zu. ihr verb „ernennt" wiederum deutet auf wolfs wahnidee hin, er sei anstelle gustav mahlers zum wiener hofoperndirektor ernannt worden. in dem mehrmals erscheinenden substantiv „fenster" wie auch im geräusch der zerbrechenden glasscheibe kann eine chronologische vorwegnahme von melanies todessturz gesehen werden — sie konnte wolfs tod (1903) nicht verschmerzen und stürzte sich wenige jahre später vom vierten stock ihres wiener hauses aus dem fenster. [...]

eisenbahnfahrten scheinen für hugo wolf zuweilen mit unerfreulichen erlebnissen und melancholischen empfindungen verbunden gewesen zu sein, so wurde im august 1896 anlässlich der entfernung eines rußkörnchens, das ihm bei einer reise nach graz ins auge geraten war, eine beiderseitige reflektorische pupillenstarre festgestellt — das untrügliche symptom einer progressiven gehirnparalyse. [...]

schon aus der anlage der titelfigur als doppel- rolle wird deutlich, dass es sich bei diesem stück, das mit seinen textreprisen und ensembles etwas von einem libretto hat, zugleich aber schon - in seiner rhythmisch gebundenen form - das „oratorium" selbst ist, nicht um ein realistisch-psychologisierendes hörspiel handelt. begriffe wie „tränen" oder „wut" werden hier nicht im sprechausdruck illustriert, sondern emotionsneutral, doch weder trocken noch mechanisch, wiedergegeben - also rezitation statt deklamation.

gewisse kennzeichen „konkreter poesie" wie radikale reduktion des sprachmaterials und aufhebung der hierarchie des syntaktischen regelsystems zugunsten der freien verfügbarbeit des einzelwortes (oder lautes) erinnern bei flüchtigem blick vielleicht an spracheigentümlichkeiten schizophrener. ein längerer text wie der vorliegende, bei dem die begrenzung des wortbestands durch das monovokale auswahlprinzip methodisch verschärft wurde, mag diesen eindruck noch verstärken, eine solche sprachbehandlung erweist sich im hinblick auf biografische daten der titelfigur nicht als fehlgriff, vielmehr als thematisch motiviert und durchaus begründet. wolfs gedanken kreisen im „letzten akt" obsessiv um dieselben begriffe, um drei emotional zentrale bezugspersonen seines le- bens (die drei „grazien") - ein psychopathologisches verhalten, das unter die von schizophrenen bekannten sprachphänomene verbigeration, das stereotype repetieren aus dem zusammenhang gerissener Wörter und satzfragmente und ihre begriffsverwischung, sowie agglutination, die zeitliche isolierung einzelner wörter, der zerfall des redeflusses bis hin zum totalen sprachverlust. [...]

Eine Produktion des WDR mit dem hr.
Ursendung: 13.02.2015, WDR3 open

Begründung der Jury

"Der Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst 2015 wird verliehen an Gerhard Rühm für „HUGO WOLF UND DREI GRAZIEN, LETZTER AKT“, eine Koproduktion von WDR und hr. Ausgehend von monovokalen Wortreihen nähert sich dieses „radiophone redeoratorium für sprecher, geräusche und klavier“ der letzten Lebensphase des Komponisten Hugo Wolf an. In konsequenter Fortführung klassischer Verfahren der konkreten Poesie gelingt Rühm eine Musikalisierung des sprachlichen Materials, die ein berührendes Hörbild von Hugo Wolf im Raum seiner späten Einsamkeit zeichnet. Das Stück, in dem Themen von Liebe und Tod, Erinnern und Vergessen durchscheinen, ist ebenso streng konstruiert wie spielerisch offen und schreibt die Geschichte der akustischen Kunst in besonderer ästhetischer Intensität fort. Ein radiophones Meisterwerk von gelassener Melancholie."

Der Wettbewerb 2015

2015 wurden 71 Wettbewerbsbeiträge von 118 Bewerberinnen und Bewerbern aus 20 Ländern eingereicht. Über die Zuerkennung der Preise hat am Donnerstag, 23. Juli 2015, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden, der weiterhin Margarete Zander, Helmut Oehring, Marcel Beyer und Michael Grote angehörten.

Die Preisverleihung fand am 18. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2015 statt.

Der Autor

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, Exponent der internationalen konkreten Poesie, der Lautdichtung und einer der produktivsten Realisatoren des Neuen Hörspiels. Komponist und bildender Künstler. Mitbegründer der legendären avantgardistischen Wiener Gruppe. In den 1950er und 60er Jahren zunächst überwiegend literarisch tätig, entwickelte er Dichtung vor allem in Grenzbereichen weiter: zur bildenden Kunst (visuelle Poesie, gestische Zeichnungen, visuelle Musik, Fotomontage, Buchobjekte), zur Musik und akustischen Kunst (Vortrags- und Tonbandtexte, Chansons, dokumentarische Melodramen, Ton-Dichtungen und Radiostücke).

1972- 1996 war er Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Grundlegende theoretische Beiträge zum Neuen Hörspiel und zur Akustischen Kunst. Seine Werke wurden mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.

Karl-Sczuka-Förderpreis 2015 Dagmara Kraus und Marc Matter: Entstehung dunkel

Karl-Sczuka-Förderpreis 2015: akustisches Vexierbild aus Stimmgeräuschen und Text. Eine Komposition aus mehrstimmigem Vortrag, lyrischen Strukturen und rythmischen Klangtexturen.

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