SWR2 Hörspiel-Studio

Manfred Hess im Gespräch mit dem Dramatiker und Hörspielmacher Björn SC Deigner

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Björn SC Deigner

Die großen Fragen der Großinquisitor-Episode aus Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" gelten auch heute. Der Dramatiker Deigner, Jahrgang 1980, versucht, ihnen in einer Hörspielarbeit nachzuspüren.

Herr Deigner, Ihr letzter Text „In Stanniolpapier“, den der SWR als Hörspiel noch vor der Uraufführung auf dem Theater produziert hat, basiert auf eine akribischen, mit großer Empathie für die Protagonistin vorgenommen dokumentarischen Recherche im Prostituiertenmilieu. Nun legen sie ein Stück vor, in dem sie einen Text aus dem literarischen Kanon sich aneignen. „Der Großinquisitor“ ist ein als mit „Phantasie“ benanntes Kapitel aus Dostojewskis 1880 erschienenem Roman „Die Brüder Karamasow“. Wie später Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ aus seinem Roman „Der Prozess“ wurde dieser eigentlich aus dem Zusammenhang des Romans genommene Prosatext ein Klassiker der modernen Literatur über die „Unbehaustheit des Menschen in gottfernen Zeiten“. Nicht zuletzt viele renommierte Autoren – von George Tabori bis David Foster Wallace -  haben sich immer wieder auf ihn bezogen. Sie, Herr Deigner, sind Jahrgang 1983, schreiben aber im und für das 21. Jahrhundert. Was reizt Sie, diesen Text aus dem 19. Jahrhundert zu überschreiben?

Zunächst glaube ich, dass Texte wie „Der Großinquisitor“ eine Gültigkeit formulieren, die fortwährend bestand haben: man kann immer wieder auf sie zugreifen; und unsere Realität, unsere Leben aktualisiert sich sozusagen an ihnen, nicht umgekehrt. Wichtig ist festzuhalten: Dostojewskis Figuren-Personal ist ein zerrüttetes. Es kann ohne Gott nicht sein und doch ist es ohne ihn; es will ohne ihn leben und dennoch wird es von ihm begleitet. Wir erleben Menschen an einer existenziellen wie ideologischen Bruchlinie ihrer Zeit. Diese Erfahrung , glaube ich, ist uns sehr nah. Auch wir erleben eine Zeit, deren Erzählungen nicht mehr tragen. Das gilt für viele Bereiche, vom ökonomischen Narrativ des „höher, schneller, weiter“ bis hin zur Erschütterung des Glaubens wie Selbstverständnisses, wir, also die westliche Welt sei der moralisch erhobene Mittelpunkt des Globus, seine Werte allgemeingültig. Diese Welt ist aber nach Sloterdijk nur ein „Kristallpalast“. (schmunzelt) Darum war es mein Eindruck, dass auch der Beginn des 21. Jahrhunderts eine gute Zeit sein könnte, für einen Text wie „Der Großinquisitor“: Es kommt der Heiland und wird vertrieben, er soll uns bitte nicht stören. Bei aller Frage, wer der Heiland nun sein möge - das ist uns weniger fremd, als wir vielleicht annehmen. Mit heutiger Sprache und heutigem Blick diese Themen aufzugreifen, sie weiterzuführen, zu kondensieren, das war ein sehr lehrreicher Prozess für mich beim Schreiben.

Björn SC Deigner (Foto: SWR, ©privat)
Björn SC Deigner

Wie ist das Verhältnis von Original und Ihrer eigener Überschreibung zu bestimmen?

Ich habe sehr schnell bemerkt, dass ich als Autor einer Hörspielfassung nicht radikal neu auf den Text zugreifen möchte. Die Arbeit des Überschreibens war dann eher ein Abtasten der Adern der Materialvorlage: Ich habe unterschiedliche Übersetzungen angelegt, neu formuliert, anders verknüpft, wieder geöffnet, abgewandelt. Das „Original in Prosa“, nennen wir es mal so, ist der grenzenlosen Schreibwut Dostojewskis entsprungen: es zieht Kreise, es mäandert, um dann wieder ganz klar Punkte zu setzen. Mein Ziel war es, einen konzentrierten Text zu schaffen, der sich erst im und über das Sprechen/Inszenieren und der musikalischen Gestaltung vollständig erzählt. Das ist vielleicht einer der wesentlichen Unterschiede – eine Qualität, die das Hörspiel ja so besonders machen kann für Autoren. Ein Hörspieltext muss nicht eigenständig stehen können. Im Gegenteil: er muss, wie Theatertexte, Lücken schlagen und diese anbieten, sodass Sprecher und Regie sie betreten können. Meinen Text in aller Bedeutsamkeit offen zu gestalten war für mich die Hauptarbeit.

Nicht nur die französischen Neostrukturalisten haben immer wieder die „Abschaffung des Autors“ ausgerufen, den Künstler als originären, geniegleicher Schöpfer verabschiedet. Verstehen Sie sich in dieser Tradition als Autor?

Als Absolvent des „Gießener Instituts“, also des Instituts der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen“... – ist das für‘s Hörspiel eigentlich ein Begriff?

Ja, doch. Selbstverständlich. Dieser hessischen Kaderschmiede hat das deutschsprachige Hörspiel viele neue Impulse zu verdanken, Heiner Goebbels hat dort gelehrt und Autorinnen und Autoren wie René Pollesch, Rimini Protokoll, Luise Voigt oder jetzt Nele Stuhler nutzen die Möglichkeiten des Radios ...

Gut, also nicht zuletzt durch meine Ausbildung stehe ich dieser Fixierung auf‘s Originäre, auf die Originalität sehr skeptisch gegenüber; für uns hieß es eher „Der Autor ist tot“: Denn auch Autorschaften können sich nicht freimachen von dem Geflecht an Quellen, Verweisen, indirekten oder direkten Zitaten, mit denen man ganz selbstverständlich umgeht. Insofern – ja.

Aber der Punkt ihrer Frage ist wiederum bezeichnend: Ich habe den Eindruck, dass der Kulturbetrieb ganz allgemein Künstlerinnen und Künstler immer weiter in eine Markenlogik treibt: es werde immer auf diese oder jene Weise inszeniert, geschrieben werden sollen immer jene wiedererkennbaren Texte; ebenso sehen die Bilder von XY immer aus wie... Das empfinde ich als neoliberale Marktlogik, in der die Frage sehr laut wird, was an der eigenen Arbeit eigentlich Handschrift ist und nicht nur reine Wiederholung – also Marke, um sich natürlich auf dem Kulturmarkt als wiedererkennbarer Mitspieler zu behaupten. Mir ist sehr daran gelegen, die jeweilige künstlerische Logik und auch die jeweilige Logik des thematischen Materials vor die Wiedererkennbarkeit des „Schöpfers“ zu setzen. Autor sein, bedeutet für mich, Arbeit an der Sprache, auch Arbeit an der Musikalität von Sprache; und all das ist vor allem mit der Frage nach dem inhaltlichen Auftrag verknüpft: wofür mache ich das, welche Bedeutung hat meine Auseinandersetzung für die Gesellschaft? Diese durchaus auch politische Frage ist, so meine Überzeugung, gerade für Autorschaften zentral.

Zugleich, und das ist ja offensichtlich, bedeutet eine solche Überschreibung auch meinen kenntlich gemachten Umgang mit dem Kanon – oder besser: dem eigenen kulturellen Echoraum.

Ihr Text ist „rollenlos“ ausgewiesen, für eine Stimme geschrieben. Ihn spricht eine Frau, auch wenn mehrere männliche Personen das Wort führen, wie der atheistische Iwan aus dem Roman als Erzähler, Jesu, der Kardinal ... Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Brüche in den künstlerischen Mitteln sind sehr wirksame Werkzeuge für das Werk. Warum malen wir Landschaften in schwarz-weiß usw.? Weil dadurch u.a. der eigene Zugriff auf das Sujet immer wachgehalten wird, Erwartungen werden nicht bestätigt, man muss nachjustieren.

Ich spreche jetzt als Regisseur im Autor: Mir war schnell klar, dass ich im Hörspiel immer den Zugriff auf den Stoff wachhalten wollte, für mich wie für das Publikum. Da war der Umgang mit einer weiblichen Stimme naheliegend, die auf den Großinquisitor, auf Jesus und nicht zuletzt Dostojewski selber sprachlich zugreift. Außerdem reizen mich Widerstände: einer ist allein dadurch gegeben, wenn Valery Tscheplanowa einen Text spricht, in dem es nur männliches Personal gibt. Durch die weibliche Stimme werden alle Selbstverständlichkeiten unterlaufen. (er lacht) Und offen gestanden: unabhängig davon wollte ich mit der Tscheplanova seit langem arbeiten, sie ist eine großartige Schauspielerin und ein Glück für jeden Regisseur.

So hat sich vieles zusammengefügt. Vor allem  muss man sich immer wieder fragen: wie inszeniere ich als  Mann das, was männlich konnotiert sein kann,  mit einer weiblichen Stimme? Inwieweit wird damit eine männliche, alte Stimme imitiert? Oder soll man es bleiben lassen, überführt dann alles besser in ein sprachliches Gedankenspiel ohne Geschlechter-Zuordnung? ... Das sind gute, fruchtbare Fragen für die eigene Arbeit. Und ich hoffe, auch das Publikum erreicht diese positive Irritation, die auf befreiende Wege weisen kann.

Warum spricht sie aber Russisch? Das irritiert. Geht es darum, den Originaltext von Dostojewski durchscheinen zu lassen? Oder soll das einen aktuellen Bezug zu Putin nahelegen?

Ich habe die russischen Stellen immer wieder als unterschiedliche Ankerpunkte angelegt und auch so empfunden. Sie sind zentrale Aussagen und Gedanken. Und durch den Sprachwechsel binde ich sie einerseits an Dostojewski als russischen Autor von 1880, der im Zarenreich lebte. Zugleich gibt es zu Putins Russland natürlich auch einen Verbindungspunkt: Eine der beeindruckenden Ebenen von „der Großinquisitor“ ist die Frage nach Weltverschwörungen, nach globalen Eliten, die im Geheimen ihr Unwesen treiben und eigene Pläne der Herrschaft verfolgen. Dostojewski Text beantwortet die Frage eindeutig mit „ja“ , sie gibt es, um uns aber zugleich auseinanderzusetzen, dass diese Eliten eben nicht glücklich sind, sondern im größten Unglück leben, weil sie uns belügen müssen, damit wir in Frieden leben können. Das ist ein Paradoxon und natürlich provokativ gemeint. Gerade im Moment sind Verschwörungstheorien sehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und es gibt selbst in Deutschland ganz unterschiedliche eigentlich Demokratie-feindliche Strömungen, die mit Sympathie nach Putins Russland schauen. So ist zumindest mein Eindruck.

Das Mittel der russischen Parts ist somit vielfach bestimmt, gut für den Autor als „Schreibenden“, gut für den Regisseur und gut für die Rezeption. Es reicht somit von einer Aktualisierungsoption bis hin zur Verfremdung des Bekannten. Mir ist bei alledem wichtig, Entscheidungen im künstlerischen Prozess mehrfach aufzuladen, auch wenn sie – wie das Momentum des Russischen - einfach aussehen.

Sie arbeiten im Hörspiel auch als Komponist und Sounddesigner. Das gilt auch für Arbeiten an verschiedenen großen Bühnen mit Regisseuren wie Luise Voigt und Bastian Kraft. Wie bestimmte die Musik ihre Arbeit am „Großinquisitor“?

Es gibt für mich bei Hörspiel- wie Theatertexten ein Vorauslauschen. Das heißt nicht, dass ich eine festgelegte Phantasie habe, wie der Text zu klingen hat. Aber Texte sind eben auch musikalische Partituren, die eine ästhetisch-inhaltliche Logik besitzen. Ein Text hat immer, zumindest hintergründig, eine rhythmische Setzung, eine klangliche Setzung ... In meinen Hörspielarbeiten ist mir aber wichtig, dass die einzelnen Positionen - Autorschaft, Regie, Komposition – sich widersprechen dürfen. Nach dem Schreiben versuche ich die Logik der Autorschaft abzuschütteln, um als Regie den Text zu öffnen. Der Musiker versucht dann die Logik des aufgenommen Materials zu verstehen, sie zu ergänzen oder ihr gar mit musikalischen Mitteln zu widersprechen ...

Sie haben nach den Wort-Aufnahmen im SWR Studio das ganze Material mitgenommen und am eigenen Schnittsystem ein erstes Arrangement von Schnitt und Mischung erstellt. Erst zum Final Mix sind Sie wieder ins SWR Produktionsstudio gegangen. Autorschaft, Komposition, Regie und Teile der technischer Umsetzung zu übernehmen ist ungewöhnlich. Die im Prinzip genuin technische und damit arbeitsteilige Produktion eines Hörspiels wird aufgehoben, die Utopie des autarken Künstlers und Handwerkers wird real. Was reizt sie daran?

Eigentlich genau das: das autarke Arbeiten ist schon eine Besonderheit des deutschen Hörspielbetriebes. Man findet es bei Franz Mon oder Jandl und Mayröcker als Vertretern des sogenannten „Neuen Hörspiels“ angelegt: Das sind Autorschaften, die mit eigenen Textvorstellungen ins Studio umgehen und sie im Studio umsetzen. Zugleich macht die heutige Technik es möglich, dass zumindest ein gewisser Teil der Arbeitsschritte im eigenen Studio vollzogen werden kann – der Autor gewinnt die Verfügungsgewalt dank der nicht mehr so teuren Computer über die Produktionsmittel zurück. Die marxistische Utopie drängt dadurch in die Wirklichkeit! (er lacht) Es ist natürlich eine große Freiheit für mich, auch wenn dies in der heutigen Gesellschaft zur Selbstausbeutung der Kreativen führen kann:  ich kann arbeiten wie und wann ich möchte, neu arrangieren, umkomponieren und insgesamt sehr intuitiv arbeiten. Umso wichtiger ist das Korrektiv, am Ende wieder zurück ins hochwertige SWR-Hörspiel-Studio mit seinen Profis im Schnitt und am Pult zu gehen. Die mit ihren Ohren erneut dem Material begegnen. Dort wird alles in seine endgültige Form gegossen, denn Hörspielarbeit bleibt eine technisch-künstlerische Teamarbeit.

Theater, Musik und Hörspiel, Regie und Autorschaft -verliert man sich als freier Künstler dann nicht in de Möglichkeitsräumen?

Ich misstraue einer Erzählung des Künstlers als Spezialisten. Davon haben wir genug in der Gesellschaft, wir brauchen keine weiteren Experten. Künstlerinnen und Künstler können in meiner Vorstellung eher dieser Logik widersprechen und ganzheitlicher denken, grenzenloser vielleicht. Ich suche deshalb immer der Logik des Materials, mit dem ich mich auseinandersetze, zu folgen  - und dann spielt es weniger eine Rolle, ob es ein Hörspiel, ein Theatertext oder eine Musik ist. Ich möchte am Ende einladen zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Stoff; und ich habe die Hoffnung, dass diese auch eine politische sein kann.

Zum Abschluss: Sie kommen aus Baden-Württemberg. Ist das SC in Ihrem Namen eine Verbeugung vor dem „Sport Club“ aus Freiburg?

Ich bin geborener Heidelberger und komme damit aus einer Stadt, die mit keinem ordentlichen Fußballklub gesegnet ist. Seit über zehn Jahren aber bin ich Wahlberliner. Insofern bedeuten die Initialen meines Namens schon fast eine erschreckende Nähe zur Berliner Hertha ...

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