Hörspiel in drei Teilen

Die Vorgeschichte der Hörspielproduktion Manhattan Transfer

Stand

Das epochale Großstadtpanorama von John Dos Passos als Hörspiel

"Wenn New York einem schal und langweilig erscheint, ist das Schreckliche daran die Tatsache, dass man nirgendwo anders hinkann. New York ist die Spitze, der Gipfel der Welt. Hier können wir immer nur im Kreis laufen wie ein Hamster im Käfig", schreibt John Dos Passos in seinem legendären Großstadtroman "Manhattan Transfer".

Die Vorgeschichte dieser Hörspielproduktion reicht zurück bis ins Jahr 2011. Nach "Die Geschichte des Franz Biberkopf" (2007, nach "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin) und "Ulysses" (2012, nach James Joyce) sollte "Manhattan Transfer" von John Dos Passos für das Hörspiel adaptiert werden. Der 1925 erschienene New York-Roman gilt als wichtiger Bezugspunkt von Döblins Werk und Dos Passos gehört wie Joyce zu den Vätern modernen Erzählens. Ein kleiner Kreis schlösse sich.

Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos (undatiertes Archivbild) (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos war auf dem Gebiet des experimentellen Romans wegweisend für die Literatur in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg.

Die Stadt New York ist der Protagonist des Romans

"Manhattan Transfer" wird als der erster Großstadtroman angesehen, der sich innovativer, unter anderem am Film orientierter Erzähltechniken in der Schilderung moderner Gesellschafts- und Wirklichkeitserfahrung bedient. Ein Meisterwerk, das New York zwischen 1896 und 1924 zum Thema hat.

In Deutschland wurde der Roman bis in den 1980er-Jahre intensiv rezipiert, mittlerweile führt er hingegen eine Art Schattendasein in literarischen Diskussionen. Viele kennen den Titel, kaum einer scheint ihn noch zu lesen.

Dabei ist der Roman politisch radikal, nutzt die Technik der Collage und eine multiperspektivische Short-Cuts-Ästhetik und passt damit in eine Zeit postmodernen Erzählens. Die Überlegung, einen großen Roman akustisch umzusetzen, korrespondierte so mit dem pädagogisch motivierten Bildungsanspruch einer kleinen Wiederentdeckung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Die Verwandlung von Literatur in Hörspiel

Für die Realsierung wurden Leonhard Koppelmann und Hermann Kretzschmar gewonnen, ein erprobtes Team, wenn literarische Werke eine text- wie musikdramatische Aneignung verlangen. Auch für die Bearbeitung schien diese Kombination sinnvoll. Beide hatten bereits erfolgreich Thomas Manns "Doktor Faustus", ein ebenfalls als schwierig angesehener Roman, für das Hörspiel realisiert.

Leonhard Koppelmann (Foto: SWR, SWR - Monika Maier)
Leonhard Koppelmann

Koppelmann hat mit seinen Theaterregien wie "Pension Schöller" oder "Die drei Musketiere" und seinen Hörspielfassungen im Krimigenre eine Handschrift entwickelt, die kunstfertig Spannungs- und Unterhaltungselemente bei der akustischen Umsetzung von literarischen Vorlagen, etwa Michel Houellebecqs "Unterwerfung" (SWR 2015) herausarbeitet.

Hermann Kretzschmar (Foto: SWR, SWR - Monika Maier)
Hermann Kretzschmar

Kretzschmar orientiert sich mit seinen eigenen Hörspielen (beispielweise nach John Cage/Hermann Hesse, Georg Büchner, Marcel Proust oder den biblischen Psalmen) und seiner Arbeit als Mitglied des renommierten Ensemble Modern an der Wahrung und Umsetzung des Komplexitätsanspruchs von Werken der sogenannten "Hochkultur". Genau zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch "Manhattan Transfer".

Der Roman ist nicht gealtert. Dos Passos' Sprache und seine Erzählweise faszinieren und der Stoff des Romans wirkt aktuell. Warum ist er so gut wie vergessen? Es geht doch um New York in der legendenumwobenen Zeit zwischen 1900 und 1924!

Die Stadt wird bei Dos Passos zum Brennglas für die historische Entwicklung des modernen Kapitalismus und der damit verbundenen veränderten Wirklichkeitserfahrung. New York ist dabei die Stadt, die für viele Menschen Glücksversprechen und Hoffnung auffressender Moloch ist. Das gilt auch noch für Metropolen von heute.

Die Handlung bewegt sich entlang der Themen Broadway-Unterhaltungsindustrie, Migration, Politik, Geld, Klassenkampf, Armut, Frauenrechte, Abtreibung, Homosexualität. Das Zeitkolorit wird indirekt über eine Collage aus Historie spiegelnden Zeitungsmeldungen, Songs, infrastrukturellem und technischem Wandel vermittelt – vom Pferdefuhrwerk, Auto, Telefon bis zum Bau der Underground und der Wolkenkratzer .

Unter den Figuren finden sich beispielsweise ein schwarzer französischer Einwanderer, der zum Prohibitionsgewinnler wird; ein Milchmann, der sich zum korrupten Gewerkschaftsführer wandelt; ein karrierebewusster Jurist; eine sich emanzipierende Frau aus dem Kleinbürgertum, die sich in der Broadway-Boheme zu verwirklichen sucht; ein vor der Härte des Landlebens fliehender Farmerssohn; ein junger Journalist aus gutem Hause, der seine Illusionen verliert; ein Kriegsheimkehrer, der zum Gangster wird et cetera. Der Roman beleuchtet sie schlaglichtartig – und ein Panorama städtischen Lebens entsteht.

Moderne Erzähltechniken, die dem Film verwandt sind

Dos Passos' Sprache und seine Erzählweise faszinieren. Coolness und suggestive Bildkraft prägen das Buch. Vor allem bieten sich die spannenden dramatischen Stories und die dialogischen Szenen für eine akustische Umsetzung geradezu an – als ob der Roman eine über mehrere Erzählstränge verlaufende Netflix-Serie wäre, die auf hohem Niveau dem Prinzip des ausschweifenden Erzählens folgt. Diese Merkmale verknüpft Dos Passos mit dem radikalen Kunstanspruch der literarischen Avantgarde der 1920-er Moderne. Was will man mehr?

Notwendigkeit einer Neuübersetzung

Aber: Die Übersetzung von Paul Baudisch aus dem Jahr 1927 überzeugt nicht mehr. Sie hat Qualitäten, ohne Zweifel, ist aber größtenteils altbacken und vielfach fehlerhaft. Dazu folgt sie Entscheidungen, die nicht mehr heutigen Übersetzungsstandards entsprechen. So reden die Figuren im Gegensatz zum Original in papierener Sprache und unabhängig von ihrer sozialen Stand oder im Berliner Dialekt, wenn es um die Kennzeichnung regionaler Herkunft geht.

Schnell stand fest: Das Projekt sollte so lange verschoben werden, bis eine neue Übersetzung vorläge. Dafür brauchte der SWR Kooperationspartner. Bei Rowohlt, dem Verlag der Übersetzung von Paul Baudisch, war für die nahe Zukunft eine Neuübersetzung nicht vorgesehen.

Als erster Schritt wurde der Kontakt mit den Erben in den USA gesucht, um die Stoffrechte zu erwerben, die an eine Neuübersetzung geknüpft sein sollten. Sie reagierten anfänglich zurückhaltend. Trotz Orson Welles ist Hörspiel in den USA vielfach "terra incognita".

Die "Wiederentdeckung" von Manhattan Transfer

So wurde das Gesamtpaket einer "Wiederentdeckung" von Manhattan Transfer entwickelt: Neuübersetzung des Romans, Sendung der Hörspielfassung durch den SWR und den Koproduzenten Deutschlandfunk, CD-Edition des Hörspiels bei Hörbuch Hamburg. Die drei Rezeptionswege Buch, Radio, Hörbuch nehmen sich überdies nicht, wie neueste Nutzeranalysen aussagen, ihr Publikum. Im Gegenteil.

Rowohlt, Hörbuch Hamburg und SWR waren sich einig, das Projekt an ein möglichst zeitnahes Senden/Veröffentlichen zu binden, damit es auch publizistisch breit gestreut werden könne. Der renommierte Übersetzer Dirk van Gunsteren, der sich mit Übertragungen von Thomas Pynchon oder T.S. Boyle einen Namen gemacht hat, wurde über das Vorhaben informiert.

Nach einigem, gelegentlich entmutigendem Hin und Her stimmten die Dos-Passos-Erben endlich nach Weihnachten 2013 zu. Die Verträge waren zu entwerfen, die Termine zwischen Sendern und Verlagen abzustimmen und das begehrte Realisierungsteam erneut anzufragen. Dirk van Gunsteren machte sich an die Arbeit, Ende 2014 lagen die ersten Fahnen vor, die Text-Bearbeitung konnte beginnen.

Die Hörspielfassung stand unter dem Zeichen: Kein Wort, das nicht von Dos Passos / van Gunsteren stammt. Nichts wird hinzuerfunden. Die dreiteilige Struktur des Romans ist zu übernehmen.

Der Roman umfasst die Zeit von 1896 bis 1924

Der erste Teil deckt als erzählte Zeit die Jahre von 1896, als in New York der Zusammenschluss der Bezirke mit Gov. Morton eingeleitet wird, der dann zwei Jahre später die Stadt zur zweitgrößten Metropole der Welt katapultiert, bis 1905 ab, dem Jahr des verlustreichen russisch-japanischen Krieges.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Jahre von 1913 bis 1916, als der Erste Weltkrieg in Europa ausbricht, die demokratische USA noch neutral bleiben, aber sich schon aufmachen, zum Zentrum des Kapitalismus und der Unterhaltungsindustrie zu werden.

Der dritte Teil beginnt 1918, als die amerikanischen Soldaten von Europa heimkehren, und endet Anfang 1924 mit den "roaring twenties", der wirtschaftlichen Depression und der Welle von  Gewaltverbrechen. Es ist nicht unwesentlich, dass der Roman in der Figur von Jimmy Herf ein Porträt der amerikanischen "lost generation" zeichnet.

Als New York, Inbegriff der Utopien Amerikas, endlich die Welt bestimmt, machen sich viele Seinesgleichen, desillusioniert von ihrer "durchkapitalisierten" Heimat, auf den Weg ins "alte", "humane", "liberale" und nach dem Ersten Weltkrieg neue demokratische Europa. Sie gingen nach Paris und Berlin. Jimmy Herf verlässt am Ende des Romans New York, um woanders einen neuen "Lebensgrund" zu suchen.

Im Hörspiel kann man nicht zurückblättern

Hörspiel muss nach seinen eigenen ästhetischen Gesetzen funktionieren. Der Verweis auf den Originalstoff ist eine Frage der Quellenangabe und der Referenz. Anderseits ist damit immer die Aufgabe verbunden, die Transferleistung ins andere Erzählmedium stimmig zu gestalten. Diesen Drahtseilakt gilt es auszubalancieren. Akustisches Erzählen, wenn es trotz aller Modernität an Handlungslinien und Figuren orientiert bleiben soll, bedarf  – ähnlich wie im Film – einer Orientierung, es kennt kein Zurückblättern und Innehalten.

Dos Passos' Figuren, über 100 an der Zahl, verzweigen sich oftmals, ihre Wege brechen abrupt ab und verlieren sich. Es wird in großen Zeitsprüngen erzählt und der Autor versucht Simultanität von Geschehnissen einzufangen. Schließlich ist die Stadt der Protagonist.

Notwendig war also eine Beschränkung auf wenige Hauptfiguren, denen der Hörer über die gut 25 Jahren folgt. Kürzungen wie schmerzhafte Streichungen auch wichtiger paralleler Handlungsstränge wurden vereinbart, um die Geschichten engmaschiger als im Original zu vernetzen und voranzutreiben. Anderseits stand auch fest, dass die Erzählerblöcke in der von Montageprinzip und starker Metaphorik bestimmten Sprache beibehalten werden müssten.

SWR2 HÖRSPIEL AM SONNTAG, "Manhattan Transfer", Hörspiel in 3 Teilen nach dem gleichnamigen Roman von John Dos Passos (Foto: SWR, SWR/Stefan Kolbe -)
V.l.n.r.: Andreas Pietschmann, Maren Eggert, Ulrich Matthes, Leonhard Koppelmann, Max von Pufendorf.

So ist die vorliegende Hörspielfassung, angelegt auf drei ca. 100-minütige oder je nach Sendungsmöglichkeiten anders zu formatierende Teile. Es ist der Versuch, in der Sprache von Dos Passos den Stoff seinen Romans als Hörspiel über die Geschichte New Yorks zwischen 1896 und 1924  zu erzählen. Wer kein Hörspiel sondern den Roman erwartet, wer reine Literatur bevorzugt, für den gibt es den Roman "Manhattan Transfer" in der neuen Übersetzung. Wie der Film so hat das Hörspiel als Kunstform seine eigene ästhetische Wirklichkeit. Für "Manhattan Transfer" sei empfohlen: hören und lesen, lesen und hören.

Nachtrag zur Ursendung

Künstlerische Arbeiten haben die Tendenz, sich von festen Vorgaben zu emanzipieren. Die Studioarbeit ging bis kurz vor Abgabetermin. So waren am Ende die Teile des Hörspiels etwas länger als ursprünglich durch die Sendeplanung vorgegeben.

Die Ursendungen des Hörspiels bei SWR und DLF sind eine leicht gekürzte Version. Für die spätere Wiederholung im Programm ist der "Director's Cut", also die ungekürzte Version vorgesehen. "Manhattan Transfer" ist somit, als Nebeneffekt, auch als Produktionsvermögen der Sender in verschiedenen Sendekontexten einsetzbar – bis hin zu einer sechsteiligen Fassung von unter 60 Minuten.

Ähnlich wie bei der SWR/DLF Hörspielproduktion des "Ulysses" nach James Joyce ermöglichen die Kulturwellen der öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten immer noch, Kulturgüter zu produzieren, die über die vielfach notwendige Vorgabe einer zeitlich festgelegten, also formatierten Sendestrecke im Radio hinausgehen. Jede Version des Hörspiels folgt dabei einer eigenen Logik, hat ihr eigenes Recht, ihren eigenen Reiz und ihre eigene künstlerische Qualität. Diese Varianz in den Hörspielfassungen widerspricht nicht dem Roman "Manhattan Transfer", der gerade die Fokussierung auf verschiedene Handlungsstränge zulässt.

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra John Dos Passos: Manhattan Transfer | Epochales Großstadtpanorama

"Manhattan Transfer" schildert die Geschichte von New York City zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jon Dos Passos erzählt in Zeitsprüngen und über die Jahre hinweg u. a. von technischem Fortschritt, dem Kampf um sexuelle Freizügigkeit und Frauenrechte, Geld und politischer Macht.

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra SWR2

Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos (undatiertes Archivbild) (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)

"Manhattan Transfer" Der Metropolenroman von John Dos Passos

Mit "Manhattan Transfer" veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller John Dos Passos 1925 einen Roman, der so neu, innovativ und überraschend war wie die Stadt selbst.

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